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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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waren so verwirrend, dass sie nicht wusste, was sie davon halten sollte. Sie sah, wie er leichtfüßig und vor sich hin pfeifend durch die Tür trat und ihr einen guten Morgen wünschte, und dann sah sie, wie er sich neben den Ofen kniete, an dem Strumpf herumzupfte, den Kopf hob und sie fassungslos anstarrte. »Sie sind tot«, sagte er.
    Sie stand an der Spüle, pumpte Wasser in den Kessel und sah durch das Fenster auf den Hof, wo Nebel über allem lag. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich hab vorhin schon nach ihnen gesehen.«
    »Und mir nicht Bescheid gesagt?«
    »So schwer, wie du arbeitest, wollte ich dich lieber noch ein bisschen schlafen lassen.« Der Kessel zischte, als sie ihn auf die Herdplatte stellte. »Ich dachte, du wolltest sie vielleicht lieber selbst finden.«
    Schwerfällig, den Strumpf an die Brust gedrückt, stand er auf. Er war bleich, und seine Augen hatten den Glanz verloren und starrten ins Leere.
    Gerührt, verwirrt sagte sie seinen Namen, und es klang wie eine Frage – »Herbie?« –, und sie hatte keine Angst, noch nicht. Er spielte ihr etwas vor, das war es, er spielte den Clown. Doch er sagte kein Wort. Er schlurfte, den Strumpf in beiden Händen haltend, durch die Küche, stieß mit der Schulter die Tür auf und ging auf den Hof.
    Sie lief ihm nach und wartete darauf, dass er sich mit seinem strahlenden Lächeln umdrehte und die Pointe lieferte, die Pointe zu diesem Witz. War der erste April nicht schon längst vorbei? Denn das konnte er doch nicht ernst meinen. Unmöglich. Die Katze – und offenbar alle anderen Katzen – hatte er ohne Gewissensbisse erschossen, und er sprach immer davon, dass er einen See-Elefanten, einen großen Bullen, schießen wollte, um ein intaktes Skelett zu bekommen und es an das Museum für Naturgeschichte in Santa Barbara verkaufen zu können. Sobald er seine Gewehrsammlung ausgelöst hatte. Und das werde er demnächst tun, sobald er das Geld zusammenhatte ...
    »Herbie!« rief sie, doch er drehte sich nicht um. Als sie ihn eingeholt hatte, trat er gerade aus dem Schuppen, in der einen Hand den Strumpf, in der anderen eine Schaufel.
    »Du willst sie beerdigen?« fragte sie, denn irgend etwas musste sie ja sagen.
    »Ich mach das schon«, sagte er und schob sich an ihr vorbei. »Geh du nur wieder ins Haus.«
    Lange sah sie ihm durch das Fenster zu. Er stand reglos in der hinteren Ecke des Küchengartens oder vielmehr dessen, was hier als Küchengarten durchging. Im Augenblick wuchs dort nur Unkraut. Sie hatte Jimmie gefragt, und der hatte geantwortet, dass der Wind und die Vögel alles, was man aussäte, vernichteten, ausgenommen vielleicht Kartoffeln – an Kartoffeln kamen sie nicht heran. Sie dachte daran und an die Tüten mit Sämereien – Erbsen, Tomaten, Gurken, Kürbisse, Paprikaschoten –, die sie im Geschäft in Santa Barbara so sorgsam ausgesucht hatte und die sie bei erster Gelegenheit aussäen wollte, ganz gleich, was Jimmie dazu sagte, denn schließlich würden sich sie hier draußen selbst versorgen müssen, nicht? Oder es jedenfalls versuchen. Frisches Gemüse. Woher sollten sie sonst frisches Gemüse bekommen?
    Schließlich legte Herbie den Strumpf sanft, ganz sanft, auf den Boden und stieß die Schaufel in die Erde. Zwei, drei Schaufelvoll – das Loch brauchte nicht groß zu sein. Der Strumpf verschwand darin und wurde mit Erde bedeckt. Doch Herbie blieb noch lange dort stehen, und seine Lippen bewegten sich, als würde er ein Selbstgespräch führen – oder beten. Vielleicht betete er.
    Die ganze Angelegenheit war seltsam, überaus seltsam. Es war die erste Verwerfung zwischen ihnen, der erste haarfeine Riss in ihrer Rüstung, in der sie als Mann und Frau für immer vereint waren, aber das wusste sie noch nicht. Sie sah ihm nur zu, bis sie wieder ruhiger wurde, bis es sie langweilte und sie sich wieder der Hausarbeit zuwandte. Erst später, als sie das Abendessen kochte und hinausging, um die Abfälle auf den Komposthaufen zu werfen, bemerkte sie das hölzerne Grabkreuz. Er hatte mit dem Taschenmesser etwas hineingeritzt. Sie musste sich tief hinunterbeugen, um es entziffern zu können. Mäuschen stand auf dem horizontalen Stück Holz und auf dem vertikalen RIP .
    Als sie sich zum Abendessen setzten, versuchte sie, das Thema in einem heiteren Ton anzuschneiden, doch es war, als hörte er sie nicht. Normalerweise sprudelte er nur so von Witzen und Geschichten und Anekdoten und redete sich manchmal so in Fahrt, dass sein Essen kalt wurde. An

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