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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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spülte –, und nachdem sie Marianne ins Bett gebracht hatte, setzte sie sich zu ihm, und sie unterhielten sich. Er war ein guter Erzähler, auch wenn sein Repertoire beschränkt war, und immer gutgelaunt, obwohl sie hin und wieder mit ihm schimpfen musste, weil er es versäumt hatte, die Brennholzkiste aufzufüllen, oder weil er Matsch ins Haus trug. Er saß am Tisch und hatte einen Becher Kaffee vor sich, und sie saß ihm gegenüber und trank eine Tasse Malzkaffee, weil sie so spät kein Koffein mehr wollte. »Ihre Tochter ist ein richtig süßes kleines Ding«, sagte er.
    »Ja«, sagte sie, »aber sie schlägt nach ihrem Vater, das merkt man. Eine Energie hat dieses Kind ... Sie macht mich fix und fertig.«
    Er schien darüber nachzudenken, starrte an ihr vorbei und nippte an seinem Kaffee. Dann sagte er: »Es gab hier auf der Insel schon mal ein Mädchen. Vor vielen Jahren. Eine echte Schönheit. Und wild. Wild wie nur was. Also, eigentlich war sie kein Mädchen, mehr eine junge Frau.« Seine Augen tauchten in die Erinnerung ein, und dann sah er sie an. »Vielleicht haben Sie mal von ihr gehört. Sie war die Tochter von Captain Waters – oder vielmehr die Stieftochter.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Inez Deane«, sagte er und beugte sich vor, die Unterarme aufgestützt. »Sie haben noch nie von Inez Deane gehört?«
    »Nein«, sagte sie leise.
    »Der Schauspielerin? Sie war berühmt für alles mögliche. Und ich kannte sie, als ich noch ein Junge war. Damals hieß sie Edith. Edith Waters. Sie hätten sie sehen sollen.«

INEZ DEANE
    Edith – Inez – war mit Hilfe von Bob Ord geflohen. (»Ja«, kam Jimmie ihrer Frage zuvor, »genau dem Bob Ord, nur damals war er jünger, viel jünger – aber wer war das nicht?«) Zwei Tage und eine Nacht lagen sie mit seinem Boot bei Gaviota vor der Küste, und dann gab er ihr Geld für die Postkutsche nach Norden. Wie sie sich dafür revanchiert hatte, konnte Jimmie nicht sagen, obwohl er Ord seit nunmehr fast vierzig Jahren löcherte: Bobs Blick ging dann immer in weite Fernen, und er sagte nur, eine wahre Lady wisse ihre Geheimnisse zu bewahren, und ein wahrer Gentleman – und das sei er, ob er nun Scheiße von den Felsen kratze und an Farmer und Munitionsfabriken verkaufe oder nicht – sei verschwiegen. Der Captain hatte ihr nie Geld gegeben, nicht mal fünf Cent, obwohl ihre Mutter ihm die Ranch und einiges andere hinterlassen hatte, doch sie hatte ein wertvolles Schmuckstück in ihrer Tasche versteckt oder in den Saum ihres Rocks genäht, und das versetzte sie in San Francisco und bekam genug, um ein Zimmer und ein paar Kleider, Kämme und Make-up bezahlen zu können und sich über Wasser zu halten, während sie in jedem Theater der Stadt vorsprach.
    »Ich hab sie einmal auf der Bühne gesehen – das war in Los Angeles. Im Burbank Theater. Captain Waters wusste nichts davon, obwohl der damals – das muss ungefähr 1902 gewesen sein – bestimmt gehört hatte, was aus ihr geworden war: Sie hatte geheiratet, ein Kind gekriegt und sich scheiden lassen. Ich hab den Programmzettel all die Jahre aufbewahrt, weil es das Tollste war, was ich je gesehen habe – wobei ich zugeben muss, dass ich vielleicht nicht so furchtbar viel gesehen habe, aber später bin ich auch im Kino und im Varieté gewesen, und ich muss sagen: Das mit ihr war das Beste. Sie spielte die Hauptrolle in The Tar and Tartar , und es kamen eine Menge Lieder vor. Ich weiß noch, dass sie nach ganz vorn kam, an den Rand der Bühne, und mit Herbert Wilke ein Duett sang: ›Let Us Pretend‹ – kennen Sie das Lied? Nein? Eine sehr schöne Melodie. Wenn Sie es einmal von ihr gehört hätten, würden Sie es nie mehr vergessen. Sie hatte eine Stimme wie ein Engel. Wie ein Engel . Und ich hab sie gekannt. Hier, auf dieser Insel.«
    Die Nacht war herabgesunken. Bis auf die üblichen Geräusche – das Knirschen und Ächzen der Balken, das verstohlene Nagen einer Maus unter den Dielen und den Wind, den ewigen Wind – war es still im Haus. »Wie lange hat sie hier gelebt?« fragte sie. »In dem anderen Haus, meine ich. Dem alten Haus.«
    Jimmie musste nachdenken. Er zog eine Zigarette aus der Hemdtasche, leckte sie an und klemmte sie zwischen die Lippen. »Das erstemal war sie 88 hier, da hat ihre Mutter noch gelebt, damals hab ich sie kennengelernt. Und dann ist sie für eine Zeitlang mit dem Captain zurückgekommen – er hat ihr verboten, aufs Festland zu gehen, weil er Angst hatte, sie könnte verschwinden,

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