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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Rauch sie husten und ihre Augen tränen ließ. Ihre Hände waren so hart, als wären sie aus Eichenholz geschnitzt, die Fingernägel waren rissig und hatten Trauerränder, ganz gleich, wie sehr sie versuchte, sie zu pflegen. Die Mädchen waren zappelig, die Sonne bloß eine Erinnerung und Herbie ständig irgendwo unterwegs. Er beschlug die Pferde, flickte Zäune und machte lange Rundgänge, so gelangweilt und niedergedrückt wie sie selbst – ja eigentlich immer niedergedrückter. In diesem Monat – es war der März 1940 , Marianne war neun und Betsy war sechs, und beide wuchsen aus ihren Kleidern heraus – ertappte sie sich immer wieder dabei, dass sie wie ein Automat durch das Haus ging, dass ihre Beine sich bewegten, ihre Gedanken aber tausend Meilen entfernt waren. Zum erstenmal wünschte sie beinahe, sie hätte nachgegeben und Herbie erlaubt, mit ihnen allen nach San Francisco zu fliegen – es wäre wenigstens eine Abwechslung von dem täglichen Einerlei gewesen.
    Eines Nachmittags, als sie einfach mal rausgehen musste, um nicht verrückt zu werden, bat sie Herbie, auf die Mädchen aufzupassen, zog sich ihre Jacke an und machte einen Spaziergang. Die Mädchen hatten unbedingt mitkommen wollen, aber sie blieb fest. »Ich brauche mal ein paar Minuten Ruhe, das ist alles. Keine Sorge – zum Abendessen bin ich wieder da.« Dann bat sie Herbie, ein Auge auf die köchelnde Spaghettisauce zu haben, und ging los.
    Es war ein milder Tag, der Wind war sacht und wehte zur Abwechslung einmal aus Süden. Frühling, der erste Hauch des Frühlings – die Erkenntnis kam ganz plötzlich und überraschend: In diesem Monat war sie zehn Jahre zuvor als junge Braut auf die Insel gekommen, ohne zu wissen, was sie dort erwartete, und sie hatte seither ein Abenteuer gelebt, das sie sich als kleines Mädchen niemals hätte träumen lassen. Es war, als wäre sie die Heldin eines Romans, als wäre sie wie die heldenhafte Mutter der Schweizer Familie Robinson, die Schiffbruch erlitten hatte und mit der die Zeitungen sie immer verglichen. Zufällig war ihr Name ebenfalls Elizabeth, was sie, angesichts der Umstände, eher als schlechtes Omen gedeutet hatte.
    Aber was war denn los mit ihr? Alles war gut. Die Mädchen wuchsen heran, alle waren gesund, die Mutterschafe lammten, und die Wolle brachte einen zwar sehr kleinen, aber regelmäßigen Gewinn, während Herbie sich alle Mühe gab, seine Enttäuschung zu verbergen und in der Arbeit aufzugehen. Es war Frühling, und sie spazierte über ein großartiges, majestätisches Stück Land, das sie ganz für sich allein hatte. Der Himmel lag flach über ihr, Schafe blickten erschrocken auf und trotteten kauend und auf steifen Beinen ein paar Schritte weiter, an den Klippen stieg der Geruch des Meers auf, und die Möwen leuchteten weiß vor dem grauvioletten Hintergrund, der sich über das Wasser und in die Unendlichkeit erstreckte. Sie fühlte, dass etwas ihr Kraft verlieh. Fühlte sich ganz und frei. Anfangs schlenderte sie ziellos, wohin ihre Füße sie trugen, doch dann beschloss sie spontan, nach Harris Point zu gehen, zu Herbies Lieblingsort, wo sie gepicknickt und Pfeilspitzen gesammelt hatten und wo man ringsum eine Aussicht hatte, als wäre man im Ausguck eines Schiffs auf hoher See.
    Es war nicht weit, bloß etwa fünf Kilometer, aber das Gelände war unwegsam, ein ständiger Wechsel aus Einschnitten und Senken, losem Sand, Geröll und Erde, so hart wie Beton. Sie suchte sich ihren Weg über die schmale Halbinsel, bis sie an der Spitze angelangt war, wo sie mit dem Fuß ein Stück Erde freifegte, bevor sie die Decke ausbreitete, damit sie bequem saß und die Aussicht genießen konnte. Sie wusste nicht, wie lange sie dort blieb und ihre Gedanken schweifen ließ, bis sie keine Gedanken mehr hatte, aber schließlich erhob sie sich und machte sich, vor ihrem geistigen Auge den Herd und den dampfenden Kochtopf, auf den Rückweg. Die Kinder mussten hungrig sein, und Herbie war sicher schon ungeduldig. Sie würde ins Haus treten, ihr Geplapper und ihre Beschwerden und das aufgeregte Bellen des Hundes hören, und sie würde die Spaghetti kochen, den Käse reiben und das Essen auf den Tisch stellen wie immer und dafür dankbar sein. Wie immer.
    Sie ging über die weite, breit hingestreckte Ebene, mit schnelleren Schritten jetzt. Die Sonne brach plötzlich durch die Wolken und erstrahlte über dem Meer wie eine Verheißung, und auf den Hügeln standen die Schafe in dichten weißen Haufen. Der

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