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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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wie sie sich gestattet hatte, von der Klippe hinunterzusehen – was sie betraf, so hatte Buck vielleicht Flügel bekommen wie Pegasus und war davongeflogen oder im tiefen Wasser gelandet und dorthin geschwommen, wohin Pferde gingen, wenn sie starben.
    Pomo begrüßte sie nicht am Tor – er war wohl im Schulhaus bei den Mädchen. Sie hatte bereits beschlossen, kein Wort über den Vorfall zu verlieren, bis der Unterricht vorbei war. Später, beim Abendessen vielleicht, würde sie ihnen sagen, dass Buck gestorben war. Aber nicht, wo und wie. Das letzte, was sie wollte, war, dass sie den Kadaver sahen, und wenn sie danach fragten, würde sie sagen, dass sie ihn an Ort und Stelle begraben hätten. Sie hörte schon Marianne: Wo? Wo? Und sie würde sagen: Da drüben und in die entgegengesetzte Richtung zeigen. In einer Woche würde auf den Felsen bei Nichols Point nichts mehr übrig sein, nicht, wenn die Flut hoch war, und es ging doch gerade auf Vollmond zu, oder nicht? Mit ein bisschen Glück würden die Knochen von den Felsen hinunter- und ins Meer gespült werden. Und sie würde betonen, dass sie nun ein neues Pferd bekommen müssten – Bob Brooks würde eben das Geld ausspucken oder ein Pferd von seiner Ranch in Carpinteria herbringen müssen –, und darüber sprechen, wie schön es sein würde, ein neues Tier zu haben, dem sie vielleicht selbst einen Namen geben könnten und auf dem sie unbesorgt reiten dürften.
    Daran dachte sie, als sie zum Schulhaus schlich, so leise, dass nicht einmal der Hund sie hörte. Sie blieb vor der Schwelle stehen, hielt den Atem an, zählte bis drei und riss wie eine Zauberin die Tür auf. Sie hatte gedacht, sie würde die Mädchen ertappen, doch sie schwätzten oder kritzelten nicht, sondern saßen, die Köpfe über die Bücher gebeugt, da und lasen. Sie sahen auf, und Pomo wedelte mit dem Schwanz und sprang ihr entgegen. »Gut«, sagte sie, »sehr gut. Lest noch zu Ende, und dann machen wir mit etwas anderem weiter und verschieben die Nacherzählungen auf morgen, ja?«
    Im Raum war es noch warm, doch sie ging zu dem Ofen, den Herbie in der Ecke aufgestellt hatte, öffnete die gusseiserne Klappe und legte ein Scheit Eisenholz auf die Glut. Sie hatte sich die Geschichte zurechtgelegt, und als Marianne fragte, wo sie gewesen sei, antwortete sie, zwei Lämmer seien in ein Loch gefallen, aus dem sie nicht hätten herausklettern können, und so habe ihr Vater sie gebeten, ihm zu helfen, und das habe sie dann getan. Den Lämmern gehe es gut, sie seien nur durstig, sonst nichts. Und ihre Mütter hätten schon auf sie gewartet.
    »Warum konnte Reg ihm nicht helfen? Oder Freddie?«
    »Ach, ihr wisst ja«, sagte sie, »die sind doch immer auf Patrouille. Und sie kennen sich auch nicht aus mit den Arbeiten auf einer Ranch – ich aber schon, und darum hat euer Vater mich gebeten. Es war keine große Sache. Wenn ich nicht hiergewesen wäre, hättet ihr ihm helfen können.«
    »Wo könntest du denn sein, wenn nicht hier?« fragte Betsy.
    »Ich meinte das theoretisch. Wisst ihr, was ›theoretisch‹ bedeutet?«
    »Reg und Freddie haben die Pferde genommen«, sagte Marianne. »Reg hat Buck geritten.«
    Ihre ganzes Lügengebäude würde also einstürzen, das war ihr jetzt klar. Aber noch nicht jetzt. Es blieben noch zwei Stunden Unterricht, also Geschichte und Geographie, und danach würde sie ihnen, wenn sie brav gewesen waren, ein Kapitel aus Black Beauty vorlesen. Jetzt sagte sie nur: »Ja, ich weiß.«
    Etwa eine halbe Stunde später – nicht mehr als eine halbe Stunde, denn es war noch in der Geschichtsstunde – hatte Herbie den Unfall. Er war direkt zur Scheune gegangen, um sich die Navyjungs vorzuknöpfen, doch sie waren nicht da. Nellie stand in ihrem Stall, aber Reg und Freddie waren nirgends zu sehen. Er hatte sie im Haus gesucht, aber nicht gefunden, was ihn nur noch wütender gemacht hatte. Im Haus war es kalt, und die Holzkiste war leer, und so ging er fluchend und nach allem tretend, was ihm in den Weg kam, hinaus zum Holzstapel und steigerte sich immer mehr in seine Wut hinein. Als er sah, dass die größeren Holzstücke nicht zersägt waren und das Wurzel- und Treibholz im Sand lag, wo es bei jedem Regen nass wurde, explodierte er. Er nahm die Axt und schlug schwitzend und fluchend auf ein Stück nach dem anderen ein, und dann nahm er sich das harte, knorrige Wurzelholz vor. Vielleicht fand er einen Rhythmus – die linke Hand hielt das Holzstück auf dem Hackklotz fest, während

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