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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Färbung, das tiefe, schimmernde Umbra des Rumpfs und der Flügel und das reine Weiß an Kopf und Schwanz. Die Klauen waren reptiliengleich, die Füße schuppig wie die eines Huhns, aber so groß wie eine Männerhand. Sie hasste diese Vögel. Sie bestahlen Will, sie bestahlen sie selbst. Doch es war ein komplexer Hass, ein Hass, in den sich Ehrfurcht, ja sogar eine Art Liebe mischte.
    »Fast zweieinhalb Meter Spannweite«, sagte Ord mit einem Blick auf den mächtigen, auf dem Boden ausgebreiteten Vogel. Er stieß ihn mit der Stiefelspitze an. Der Kopf des Adlers lag seltsam verdreht im Matsch, die Klauen griffen ins Nichts. »Einer der größten, den ich je geschossen habe. Und ich kann Ihnen sagen, ich habe viele geschossen.«
    Sie musterte die ledrigen, jetzt geschlossenen Lider des Vogels und fragte sich, was diese Augen von dort oben gesehen hatten. Wie hatte das Haus ausgesehen? Die Schweine? Die Truthähne? Wie hatten die Menschen ausgesehen mit ihrem Sprengstoff und ihren Gewehren, mit ihren pyramidenförmigen Hüten und den beiden Punkten, die ihre Schuhe waren?
    Wills Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Der hier wird uns jedenfalls keinen Ärger mehr machen.«
    Sie stutzte. Beide Männer sahen sie an, lächelnd, stolz: Ein weiteres Hindernis war aus dem Weg geräumt, und der Beweis lag ausgebreitet auf dem nackten Boden zu ihren Füßen. »Aber was sollen wir mit ihm machen?« fragte sie.
    »Machen?« Will lachte und der Fremde – Ord – ebenfalls. »Ihn vergraben. Vielleicht sollten wir ihn auch an den Stall hängen, als Warnung für die anderen.«
    Ihr war kalt. Der Geruch des Meeres schien sich plötzlich zu verdichten, der gärende Geruch der unzähligen Wesen, die von den Wellen angespült wurden, hüllte sie ein, als stünde sie am Strand, mitten unter ihnen. Und dann kam ein Windstoß aus der Schlucht und traf sie wie ein Messerstich, und in dem Augenblick, als sie sich umdrehte, um sich ins Haus zurückzuziehen, sah sie, wie er unter die Flügel des toten Vogels fuhr, bis sie raschelten und bebten und sich ein letztes Mal in die Luft schwingen wollten.

DIE SCHERER
    Die Scherer verspäteten sich, sie waren unberechenbar, sie fuhren zu einer Insel nach der anderen und kamen, wann sie wollten, und niemand, am allerwenigsten Marantha, konnte daran etwas ändern. Laut Will hatte Ord von einem Fischer gehört, sie seien auf der Nachbarinsel, aber sicher war man sich nicht, denn sie konnten ja schließlich kein Telegramm schicken, nicht wahr? Und dann war Ord wieder fort mitsamt den Robben, die er ihrer Felle wegen geschossen hatte, und einer Ladung Guano von dem Felsen in der Einfahrt zur Bucht, der aber trotzdem kein bisschen geschrumpft zu sein schien. Zwanzigmal am Tag sah sie durch das Fenster aufs Meer, und da war er, vom blendendweißen Kot der Vögel überzogen, so dass man hätte meinen können, er sei von einem Gletscher bedeckt. Er hieß Prince Island – sie hatte keine Ahnung, warum. San Miguel war von einem Portugiesen namens Cabrillo entdeckt worden, soviel wusste sie, und auch, dass er im Auftrag des spanischen Königs unterwegs gewesen war, daher also der spanische Name – aber andererseits trug hier doch alles spanische Namen: San Francisco, Santa Barbara, Santa Cruz, Los Angeles, ja sogar California war ein spanischer Name. Vielleicht hatte der König einen Sohn gehabt, aber wieso dann ein englischer Name: Prince Island? Es musste ein spanisches Wort für »Prinz« geben, doch sie hatte keine Ahnung, wie es lautete. Das alles war natürlich vor dreihundert Jahren gewesen, und in der Zwischenzeit musste es viele Generationen von Königen und Prinzen gegeben haben. Wenn es nach ihr gegangen wäre – wenn sie tatsächlich die Königin der Insel gewesen wäre, dann hätte sie diesen Felsen nach seinem Hauptmerkmal benannt: Guano-Insel. Oder vielmehr Haufen. Guano-Haufen.
    Jedenfalls verspäteten sich die Scherer. Die Morgen kamen und gingen, die Nachmittage hüllten sich in Nebelschleier, die Nächte senkten sich herab wie ein Vorhang – Frühstück, Mittagessen, Abendessen, Abwaschen, Kartenspiele, Muscheln, Spaziergänge zum Strand und zurück –, und kein Segel in der Bucht. »Wo bleiben die bloß?« sagte Will immer wieder, und seine Stimme klang angespannt und flehend, doch er fragte weder sie noch irgend jemand anders, denn niemand konnte es wissen außer Gott oder Ords geheimnisvollem Fischer, und auch der ließ sich nicht blicken. »Warum brauchen die so lange? Wie sollen wir

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