Sanctum
Schweinefüßen fehlten ebenso wie ein Großteil der Fischkadaver, dafür war ein weiterer riesiger Kessel hinzugekommen. Jean sah nach dem Inhalt und entdeckte noch mehr Asche.
Sarai gesellte sich zu ihm. »Verzeiht meinen Ausbruch gestern, Monsieur Chastel«, sagte sie zerknirscht und hielt die blauen Augen gesenkt. »Ich weiß, dass Ihr der Letzte seid, der einer Bestie vertrauen würde, und dass es Unrecht war, was ich sagte. Es steht mir nicht zu.«
Er wandte sich ihr zu und rückte die gefütterte Lederkappe zurecht, unter der ihre schwarzen Haare lagen. »Ich weiß, was deine Zunge gelöst hat. Wir werden bald feststellen, ob Roscolio anders ist als die Bestien, die ich bislang kennen lernte und von denen mir berichtet wurde, oder ob er ein Meister der Täuschung ist.« Seine Hand legte sich an den Pistolenknauf. »Wenn er es ist, werde ich kein Sanctum für ihn verschwenden. Das verspreche ich dir … und Bathseba.«
Sarai nickte. »Ihr vergebt mir, Monsieur?«
»Die Äbtissin und ich haben über dich gesprochen und beschlossen, den Vorfall auf sich beruhen zu lassen.« Die braunen Augen schauten streng. »Aber es darf nie wieder geschehen. Ich bin euer Ausbilder und Mentor, wenn es um die Wandelwesen geht, und ertrage harte Worte – doch die Äbtissin steht über euch. Vergiss dich noch einmal und du wirst mit einer empfindlichen Strafe rechnen müssen.«
»Es wird nicht mehr geschehen.« Sie verneigte sich vor ihm und sah ihn erleichtert an. »Danke, Monsieur Chastel.«
»Ich habe etwas.« Roscolio winkte Jean und Sarai zu sich und zeigte auf einen Abdruck im Schnee. »Die Spur eines Mannes, durch die ich seine Witterung aufnehmen kann. Leider ist es nicht der Comte.«
»Was macht Euch sicher, dass es keiner der Arbeiter ist?«, erkundigte sich Jean.
»Ich habe die Kampfstelle, die Ihr mir gezeigt habt, genau untersucht und den Geruch des Mannes auch dort gefunden. Er war heute noch einmal hier und gehört zu denen, die wie Ihr, Monsieur, verwundet sind. Das macht es sehr leicht für mich.« Roscolio schritt quer über den Hof zum Tor hinaus auf die Gasse, wo er in einen eigentümlichen Lauf verfiel – mal hielt er den Kopf gesenkt, mal hoch erhoben, dann blieb er stehen, um gleich darauf loszustürmen.
Jean und die Seraphim folgten ihm, selbstverständlich nicht in einem großen Pulk, sondern auf beiden Straßenseiten versetzt. Er warf ihnen rasche Blicke zu und spürte Stolz auf die jungen Frauen, seine Seraphim, welche die Kunst der unauffälligen Verfolgung perfekt beherrschten.
Roscolio lief und lief, bis sie um die Mittagszeit einen Platz mit dem gewaltigsten Brunnen betraten, den Jean jemals in seinem Leben gesehen hatte. Mehrmals war er schon hier gewesen, doch der prächtige Trevibrunnen, der mehr an einen römischen Triumphbogen erinnerte, brachte ihn immer wieder zum Staunen. Leider blieb keine Gelegenheit, sich das Meisterwerk, das noch gar nicht so alt war, näher anzuschauen.
Roscolio passierte den Brunnenrand, dabei deutete er unauffällig nach rechts, auf eine Häuserzeile. Er hatte den Verbleib eines Gegners ausfindig gemacht.
Jean schlenderte zur Haustür, wo er sich mit Roscolio traf. Über ihnen pendelte ein Schild mit der Aufschrift Herberge. »Hier?«
»Die Spur führt in das Haus. Der Geruch dringt«, er sah hinauf, »aus dem geöffneten Fenster des ersten Stocks. Wie wollen wir vorgehen?«
»Wir überraschen sie. Ich denke, dass wir das Versteck der Rumänen entdeckt haben. Beim Zusammenstoß mit dem Legatus ist ihre Zahl stark dezimiert worden. Es wird leicht.« Jean gab Sarai ein Zeichen, dann trat er ein und stand in einem Schankraum, der voll besetzt war. Roscolio folgte ihm sehr dicht, was sein Misstrauen gegenüber dem Panterwesen augenblicklich verstärkte. Rasch trat er einen Schritt zur Seite, sein Begleiter hob fragend die Augenbrauen, dann lächelte er verständnisvoll.
»Wir suchen ein Zimmer«, sagte Jean, als er den Wirt gefunden hatte. Es war ein kleiner, schmaler Mann mit hervorquellenden Augen und fettigen schwarzen Haaren, dessen Schürze nicht viel sauberer war als das Hemd und die Hose, die er darunter trug.
»Und wir hätten gern eines im ersten Stock. Von da ist der Blick auf den Brunnen am schönsten«, fügte Roscolio hinzu.
»Die sind leider schon alle vergeben …«
»Geld spielt keine Rolle. Werft die Menschen raus, die mir das Vergnügen vorenthalten.« Roscolio spielte die Rolle des überheblichen Reichen sehr gut. »Oder noch besser:
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