Sanctum
»Ich habe kein Interesse daran, Euer Leben zu nehmen. Trastevere benötigt meinen Schutz, und ich werde die Gassen weiterhin von menschlichem Übel reinigen.«
»Doch wie lange wird Eure edle Gesinnung das Tier in Euch beherrschen können? Um die Menschen Roms zu schützen, muss ich nach Eurem Leben trachten, Monsieur Roscolio«, widersprach er. »Auch die Seraphim werden es als ihre Aufgabe ansehen, nicht eher zu ruhen, bis die Bestie tot vor ihren Stiefeln liegt.«
»Es wäre bedauerlich, wenn der Tod die Ernte einfährt, die unser Vertrauen gesät hat.« Gregoria erhob ihre Stimme und übernahm die Rolle der Vermittlerin. »Ihr, Monsieur Roscolio, spracht davon, dass Ihr das Leben einer Bestie gern ablegen würdet.«
»Ich bat niemals darum, eine zu sein. Es hat Vorteile, ein zweites Wesen in sich zu tragen, das über unglaubliche Kräfte verfügt, aber die Nachteile sind schrecklicher als alles andere. Ich …« Er schluckte. »Wenn Ihr etwas kennt – außer den Tod – lasst es mich wissen!« Die Augen glänzten verräterisch feucht. »Mein Geld nutzt nichts, wenn ich keine Familie mehr habe, um ihr Gutes zu tun.«
Gregoria erahnte eine schreckliche Tragödie. »Was ist mit ihr geschehen?«
Roscolio atmete tief ein. »Das Wesen in mir giert nach Frauen, nach unentwegter Paarung, nach Laster jeglicher Art. Meine Frau hat mich mit meinen drei Kindern verlassen, als sie hörte, wo ich mich herumtrieb.«
»Bekamt Ihr die Kinder vor oder nach Eurer Wandlung?«, erkundigte sich Jean alarmiert.
»Davor, Monsieur. Sie tragen nichts in sich, was sie zu einer solchen Kreatur werden lässt.« Er trank den letzten Schluck Tee. »Ich vergöttere meine Gemahlin, Monsieur. Sie und meine Kinder sind das Schönste, was mir Gott gab. Es gibt keine schlimmere Strafe für mich, als sie nicht mehr zu sehen. Nicht mit ihnen zusammen zu sein.« Er sah Gregoria an. »Da Ihr mich fragt: Kennt Ihr ein Mittel?«
Sie nickte. »Ja, wir kennen eins.«
»Aber zuerst sollten wir auf die Jagd gehen«, fiel ihr Jean rasch ins Wort. »Im Kampf gegen eine Bestie kann es von Vorteil sein, eine andere auf der eigenen Seite zu wissen, Monsieur Roscolio. Zeigt mir Eure guten Absichten, die Wahrheit über Euch.«
Roscolio lächelte. »So soll es sein, Monsieur Chastel. Gehen wir auf die Jagd. Ich schlage vor, wir kehren morgen in den Hof zurück, von dem Ihr erzählt habt, und ich zeige Euch, was eine feine Nase alles aufspüren kann.« Er stand auf und ging zur Tür. »Sagen wir gegen neun Uhr?« Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er hinaus.
Sarai sah Jean aus wütenden blauen Augen an. »Ihr habt doch nicht vor, ihm zu vertrauen, Monsieur Chastel?«, fragte sie aufgeregt.
»Nein, vertrauen werde ich ihm nicht«, antwortete er beruhigend.
»Dann werden wir ihn bestrafen für das, was er Bathseba antat?«
»Nein, Sarai«, kam es energisch von Gregoria. »Ich habe ihm Heilung versprochen. Roscolio machte auf mich den Eindruck eines leidenden Menschen, wie es …« Beinahe hätte sie Florence erwähnt. »… der es nicht verdient hat, länger von dem Dämon in sich heimgesucht zu werden. Er tut mit den Bestienfertigkeiten Gutes oder versucht es zumindest, und er wünscht sich nichts sehnlicher als die Rückkehr in ein Leben als Mensch.« Sie blickte Jean an und erbat sich seinen Beistand. »Es ist anders als bei Antoine und dem Comte, oder?«
Schweren Herzens stimmte er ihr zu. »Ja. Es ist anders.«
Sarai atmete schnell, sprang vom Bett auf und eilte zur Tür. »Vielleicht ist er ein guter Schauspieler und Ihr fallt auf seine Geschichte herein«, spie sie aus und rannte hinaus. Sie floh, um das Wort, das ihr offensichtlich gerade in den Sinn kam, nicht aussprechen zu müssen: Verräter.
Gregoria und Jean sahen einander an.
8. Januar 1768, Italien, Rom
Jean, die Seraphim und Roscolio standen sich in dem dreckigen Hinterhof gegenüber. Während die jungen Frauen und der Jäger einfache, dicke Winterkleidung trugen, fiel Roscolio durch seine teure Garderobe auf: Der wunderschön bestickte Dreispitz und der lange weiße Wollmantel passten nicht in die Umgebung.
Ungewöhnlicher nächtlicher Schneefall hatte die Spuren des gestrigen Kampfes bedeckt, das Weiß und vereiste Blutpfützen knisterten unter ihren Stiefeln. Debora und Judith standen an der Einfahrt und hielten Wache, die Übrigen durchsuchten zusammen mit ihrem neuen Verbündeten den Hof.
Die Arbeiter des Unternehmens waren fleißig gewesen, die Fässer mit den
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