Sanctum
»Ich meine, sie trug das Böse in sich.«
»Wir sind durch einen Zufall auf sie gestoßen. Wir verfolgten die gleiche Bestie und gerieten beinahe aneinander. Sie folgte uns nach Rom und bot uns ihre Hilfe an. Justine war eine bezaubernde Person.«
Eric lachte auf. »Sprechen wir von derselben Frau?«
»Justine hat mir erzählt, welche Schwierigkeiten Sie beide miteinander hatten. Es gab für Sie keinerlei Gelegenheit, sie besser kennen zu lernen. Sie so kennen zu lernen wie ich.« Faustitia schloss das Fenster wieder, das Geläut war zu Ende. Die Kälte sollte nicht länger ins Arbeitszimmer dringen. Sie verharrte einen Moment. »Sie ist mehr als einmal in eine Versuchung geführt worden, von der Sie und ich uns keine Vorstellung machen können. Und sie hat immer widerstanden …« Faustitia schwieg.
Eric hatte nicht geahnt, dass zwischen der Oberin und seiner Halbschwester eine so innige Freundschaft bestanden hatte. Für ihn wäre das unvorstellbar gewesen. Ja, er musste sich eingestehen, dass er Justine eigentlich nur dafür gehasst hatte, dass es sie überhaupt gab. Sie war der lebende Beweis für die Untreue seines Vaters und den Betrug an der geliebten Mutter gewesen. Faustitia hatte Recht: Es war zu spät, seine unerwartete Verwandte näher kennen zu lernen. Und er begann zu ahnen, dass dies ein Verlust sein konnte.
»Unter anderen Umständen hätte ich sie vielleicht … gemocht«, räumte Eric ein, nahm sein G3 und schob es zurück unter den Mantel. »Ich werde Rotonda einen Besuch abstatten. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?«
»Mehr noch. Ich werde Ihnen alle Aufzeichnungen zukommen lassen, die wir über ihn haben«, versprach sie ihm, drehte sich um und griff nach dem Telefon. »Wenn wir schon nicht gegen ihn vorgehen können, dann unterstützen wir Sie mit allem, was wir besitzen.«
»Kann ich im Notfall auf Ihre Seraphim zurückgreifen?«, fragte er unschuldig.
Faustitia bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. »Vielleicht«, erwiderte sie nach einigem Zögern. Eine Schwester kam herein. »Führen Sie Herrn von Kastell in eines unserer Gästezimmer. Er wird sich ein wenig ausruhen und etwas essen wollen.« Sie wandte sich wieder an ihn. »Ich lasse Ihnen die Unterlagen bringen. Sagen Sie mir Bescheid, wann Sie aufbrechen wollen.«
Eric erhob sich. »Sobald ich weiß, dass Lena kein Wandelwesen mehr ist.«
»Ich lasse Sie in zwei Stunden abholen. Sie werden dabei sein, wenn wir die Prozedur durchführen.« Faustitia nickte ihm zu und deutete auf die Schwester, die hereingekommen war. »Gehen Sie jetzt, Herr von Kastell. Schwester Walburga bringt Sie in ein Gästezimmer.«
Eric folgte ihr. Er freute sich auf zwei Stunden Schlaf.
In seinem Zimmer gab es zwar ein Fenster, aber es war vergittert und gab den Blick auf eine blanke Felswand frei. Es wunderte ihn nicht, dass Schwester Walburga die Tür absperrte, nachdem sie sie von außen zugezogen hatte. Er hätte an der Stelle der Schwesternschaft das Gleiche getan.
Italien, Rom, 30. November 2004, 12.01 Uhr
Eric stand neben Lenas Bett und betrachtete das entspannte Gesicht der Schlafenden. »Wie gefährlich ist es?«, fragte er leise, dabei streckte er die Hand nach ihr aus und berührte sanft die Stirn.
»Die Bestie wehrt sich, wenn sie vertrieben wird.« Faustitia befand sich auf der anderen Seite und hielt eine winzige Ampulle in der Hand. Sie sah kein bisschen antik aus, mehr nach Edelstahl und Hightech, mit einer seitlichen Leuchtdiode, die blau leuchtete. »Ich will Ihnen nichts vormachen, Herr von Kastell: Der Verstand oder der Körper des Menschen können dabei zu Schaden kommen. Die erste Verabreichung, die unsere Ordensgründerin damals an einem Werwesen vornahm, endete mit dem Tod des Mannes. Seitdem haben wir die Methode erforscht und verfeinert. Doch alles ist besser, als Diener des Bösen zu sein.«
»Wie hoch ist die Todesrate unter denen, die Sie zu heilen versuchen?«
»Sie liegt bei zweiundfünfzig Prozent, Herr von Kastell. Von den achtundvierzig, die überleben, behalten etwa zwanzig Prozent einen dauerhaften Schaden.« Sie unternahm nicht einmal den Versuch, die Heilung als schnelle, einfache und saubere Sache darzustellen. »Wir kümmern uns um jeden, der Gebrechen davonträgt.«
Eric schaute wieder auf Lena hinunter. »Es gibt nur eine Alternative«, sagte er heiser und legte die Hand an den Griff seiner P9 im Gürtelholster. »Sowohl für mich als auch für sie. Und die will ich nicht.« Er schluckte
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