Sanctum
Wandelwesen. Sie stehen vielleicht nicht an jeder Straßenecke, aber in zwei Jahrhunderten kann man schon das ein oder andere erwischen.«
»Es geht nicht um ein einfaches Wandelwesen, Herr von Kastell. Sie wissen genauso gut wie ich, dass die meisten von ihnen für den Ahnungslosen kaum von einem großen Tier zu unterscheiden sind – Löwen und Panter, Hyänen und Pumas … Aber die Bestien aus dem Gevaudan sind anders. Ihnen sieht man an, dass sie eine Ausgeburt der Hölle sind.«
»Die Ausgeburt der Hölle, wie Sie es nennen, ist kaum ein paar Wochen alt und noch keine ernstzunehmende Gefahr«, erinnerte sie Eric. »Natürlich müssen wir ihn dringend in unsere Gewalt bringen, aber soweit ich weiß, ist dieser Welpe das letzte Exemplar seiner Art – nur noch ein Biest, nicht mehr.«
»Wollen Sie mich nicht verstehen, Herr von Kastell? Eine Bestie würde vielleicht übersehen oder recht schnell von Menschen wie Ihnen und mir ausgemerzt werden. Aber nicht, wenn sie in Rudeln umherziehen. Er braucht den Welpen, um eine Legion zu schaffen!«
Eric starrte sie an. »Ich warte darauf, dass die Tür aufgeht und man mir sagt, dass ich eben reingelegt wurde.«
»So sehr ich es wünschte: Das wird nicht geschehen, Herr von Kastell.«
»Aber wenn Sie davon wissen …«
»Unser Orden und Rotondas Organisation liefern sich seit Jahrhunderten ein Duell, bei dem wir bisher stets im Vorteil waren. Wir fanden die meisten Bestien vor ihnen oder entrissen ihnen jene, die sie bereits in ihre Gewalt bringen konnten. Es kam niemals zur Katastrophe.«
»Schön, angenommen, dieser Wahnsinnsplan geht auf: Will Rotonda die Bestien dann wieder aus der Welt beten? Was genau ist sein Plan?«
»Wir beide wissen, dass die Kirche in den letzten Jahrhunderten stark an Macht verloren hat. Und Macht …«
»Er besitzt ein Gegenmittel.« Eric kam von selbst auf die Lösung. »Die Bestien werden Angst und Schrecken verbreiten, sich vermehren, Chaos anrichten … und nur er und seine Gefolgsleute bieten Schutz. Und Heilung.«
»Durch die Gnade Gottes, ja«, bestätigte ihm Faustitia.
Eric sah die Apokalypse vor sich: Bestien hetzten durch die Straßen, zerrissen alles, was sie fanden, und die Menschen strömten in Scharen in die Gotteshäuser, an deren Altären Rotondas Anhänger standen. »Er will nicht zufällig Papst werden?«
»Nein. Er nicht. Aber seinem Cousin sagt man solche Ambitionen nach.«
»Ich verstehe, dass Sie nicht zur Polizei gehen und sagen können: Wir wissen, was Rotonda plant. Aber gibt es keine Möglichkeit, den Wahnsinnigen aufzuhalten? Ihn und seine gesamte Mannschaft auszuradieren? Gott gab uns Bomben«, rief er aufgebracht. »Kramen Sie mal im Alten Testament, da lässt sich gewiss eine Stelle finden, die einen Anschlag rechtfertigt.«
»Wenn es so einfach wäre … Auf seine Art und Weise ist er ein genauso gläubiger Mensch wie ich. Er kämpft für die Kirche und die Stärkung des Glaubens, der in Gefahr geraten ist. Es liegt an uns, sein Werk, das er in Verblendung anstrebt, zu vereiteln. Weil wir an das Gute in ihm glauben, wie wir an das Gute in den Wandelwesen glauben, retten wir, anstatt zu vernichten.« Faustitia räusperte sich. »Anders ausgedrückt: Eine Schwester würde ihren Bruder niemals töten, wenn er den falschen Weg eingeschlagen hat, sondern versuchen, ihn zurück auf den rechten Pfad zu bringen.«
Eric dachte unwillkürlich an Justine. »Dann gilt das für Sie und Ihre Schwesternschaft, aber nicht für mich. Ich stand vor ihm, ich hatte meine Pistole dabei.« Eric wühlte sich in den Haaren. »Wenn ich daran denke, welche Gelegenheit ich verpasst habe …«
Sie betrachtete ihn. »Ich will nicht sagen, dass er unverwundbar ist, aber …« Sie zögerte.
»Aber?« Er rieb sich über den Bart. »Er ist doch ein Werwolf?«
»Nein. Aber er besitzt Gaben, die nicht von dieser Welt sind.«
»Kann er übers Wasser laufen?«
»Wohl kaum. Aber ich kann Ihnen versichern, dass er ein Gegner für Sie sein wird, der jedes Wandelwesen übertrifft.«
»Seine Macht beruht nicht auf dem Glauben, nehme ich an.«
»Sie beruht auf dem Vermächtnis des Herrn.« Sie legte die Hand auf Herzhöhe. »Sein heiliges Blut.«
»Er ist ein Nachfahre von Jesus? Erzählen Sie mir nicht, dass diese ganzen wirren Geschichten über Jesus und Maria Magdalena wahr sind!« Eric war bei seinem dritten Kaffee angelangt, sein Herz schlug schneller und jagte seinen Kreislauf in die Höhe. »Ich sagte es vorhin schon einmal:
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