Sanctum
Pferd kein Durchkommen gab, und an der ein oder anderen lichteren Stelle des Waldes erkannten sie tiefe Gräben und Sumpflöcher.
Die Düsternis bedrückte die beiden, sie schwiegen und lauschten auf jedes Geräusch, jedes Rascheln und Knacken im Unterholz.
»Keine gute Gegend für eine Jagd«, sagte Jean schließlich.
Judith betrachtete die feindliche Natur um sich herum. »Mir ist die Stadt lieber, Monsieur. In Gassen und auf Straßen, meinetwegen auch auf Dächern, kenne ich mich gut aus, aber das hier …« Sie schauderte. »Von nun an habe ich noch mehr Respekt vor Euch, Monsieur Chastel. Eine Bestie in so einer Umgebung zu verfolgen, das erfordert hundertmal mehr Aufmerksamkeit und Courage als in einer Stadt.«
»Es ist eine Frage der Gewöhnung.« Jean nickte ihr zu. »Und man gewöhnt sich rasch daran.«
»Ihr seid hier aufgewachsen, Monsieur. Ich dagegen kenne nur Rom.« Judith fühlte sich unwohl, eine Hand lag immer am Knauf ihrer Pistole.
Der Weg verbreiterte sich, aus dem feuchten Waldboden wurde Kies, der unter den Hufen knirschte. Sie ritten auf das Anwesen zu, das einsam und verlassen vor ihnen lag. Vor dem kleinen Schlösschen befand sich ein Springbrunnen ohne Wasser darin, rechter Hand lagen die Stallungen. Kein Mensch ließ sich blicken, als sie die Zufahrt entlangritten und sich unübersehbar der Treppe näherten.
Erst als sie am Fuß der Stufen absaßen, öffnete sich eine Tür in den Stallungen und drei junge Burschen in einfachen Leinenhemden und kurzen Hosen kamen heraus. Sie trugen ihre Mistgabeln so, dass man darin durchaus eine Drohung sehen konnte. Dass Jean und Judith doppelläufige Musketen und jeweils zwei Pistolen besaßen, störte sie nicht.
»Bonjour, Monsieur«, grüßte der Größte von ihnen, ein dunkelhaariger, kräftiger Mann, und blieb zwei Schritte vor ihnen stehen. »Ihr seht nicht aus, als wärt Ihr der neue Herr des Schlosses.«
Jean verbarg sein Erstaunen. »Wenn es doch so wäre?«
Der Bursche hielt seine dreckige Hand hin. »Dann bekommen wir von Euch den Lohn für das letzte halbe Jahr. Der alte Marquis hat uns auch nichts mehr gezahlt, obwohl wir für seinen Sohn und dann für Euch das Schloss in Ordnung hielten.« Er grinste und zeigte dabei zwei Zahnlücken. »Wir hätten die Einrichtung auch teuer verkaufen können.«
»Nein, ich bin nicht der neue Herr«, sagte Jean. »Mein Name ist Chas … Chasbinall, und das ist meine Tochter. Wir sind Jäger auf der Durchreise und dachten, ein Lager für die Nacht zu finden.«
»Ich kann Euch und Eurer Tochter den Stall anbieten«, sagte der Bursche enttäuscht. Er hatte gehofft, endlich sein Entgelt zu erhalten.
Jean langte in die Tasche und warf ihm zehn Livres zu. »Können wir dafür im Schloss ruhen? Wir haben unterwegs zu oft in schäbigen Absteigen schlafen müssen, um angesichts dieser Pracht auf Stroh zu lagern.«
»Es wäre mein größter Wunsch«, sagte Judith und lächelte hinreißend.
Der Bursche wechselte rasche Blicke mit seinen Kumpanen. »Von mir aus«, willigte er ein. »Aber macht nichts kaputt.«
Jean drückte dem jungen Mann die Zügel in die Hand, dann drehte er sich wieder zum Gebäude um. »Wieso wurde das Schloss verkauft?«
Jetzt grinsten alle drei. »Nicht verkauft, Monsieur. Es wurde vom alten Eigentümer abgetreten, sagt man. An seine Schuldner.« Der Bursche deutete mit der Mistgabel auf das Schloss. »Ländereien in Saint-Alban, in La Tournelle und hier, Monsieur. Der ganze Wald«, er schwenkte die Zinken gefährlich nahe an Jean vorbei, »knappe neuntausend Morgen, alles futsch. Man sagt, der junge Comte habe eine halbe Million Livres Schulden, Monsieur.«
»Weiß man denn, wo er hin ist?«
»Das würden die Leute, denen er Geld schuldet, zu gern wissen. Man erzählt sich, dass er nach Paris geflüchtet sei, um dem Kerker zu entkommen.« Er drückte einem anderen Jungen die Zügel in die Hand, ging an Jean vorbei, nahm einen großen Schlüsselbund vom Gürtel und erklomm die Stufen. Er schaute zu Judith. »Kommt, ich zeige Euch Euer Quartier. Es wird Euch gefallen, Mademoiselle.«
Judith nahm ihren Rucksack und folgte hinauf zum Eingang. »Sehr gern.« Nach einem langen misstrauischen Rundumblick über das Anwesen, die Stallungen und den Boden betrat auch Jean das Schloss.
Er wunderte sich gleichzeitig über seinen Argwohn. Der Comte befand sich wahrscheinlich irgendwo im Mittelmeer, vielleicht auf Menorca, wo er Antoine kennen gelernt hatte. Sollte der Marquis nichts über
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