Sanctum
seinen Sohn wissen, stand für Jean und Judith die Insel als nächster Zielort fest.
Im Inneren war es kühl, die Frühsommersonne hatte es nicht geschafft, die Mauern zu durchdringen und die Räume aufzuheizen. In jedem Raum, den sie passierten, herrschte verschlafene Pracht. Möbel waren mit Tüchern abgedeckt, die Kronleuchter baumelten an langen Seilen in Brusthöhe von der Decke, die Kerzen waren alle abgebrannt.
Jean fiel auf, dass der Comte das Schloss dunkel eingerichtet hatte, die düsteren Farben schufen Nischen, die man erst bemerkte, wenn man an ihnen vorbeiging. Ein echter Wolfsbau mit vielen Plätzen, sich zu verbergen und Eindringlinge hinterrücks anzugreifen.
Jean und Judith wurden im obersten Geschoss in ein Schlafgemach geführt. »Voilà, Mademoiselle. Heute seid Ihr eine Comtesse.« Der Bursche lachte sie an und hegte beim Anblick der hübschen Frau unübersehbar unzüchtige Gedanken. »Und ich erfülle Euch jeden Wunsch«, setzte er flüsternd hinterher, damit Jean es nicht hören sollte.
Judith zog die Augenbrauen nach oben, um ihren Mund lag ein spöttisches Lächeln. »Eine Comtesse würde sich nicht mit dem Gesinde einlassen, oder?«, flüsterte sie zurück.
Schlagartig verflog sein schelmisches Grinsen. »Denkt daran, nichts zu zerstören. Ich werde mir morgen früh das Zimmer ansehen, und wenn ich einen Kratzer entdecke, behalte ich Euer Pferd, Monsieur.« Er drehte sich zu Jean um, der Mühe hatte, ernst zu bleiben, und streckte ihm die Hand entgegen.
Jean schlug ein. »Einverstanden. Ich verspreche, dass meine Tochter und ich nichts weiter tun werden, als uns unter die Decken zu legen und zu schlafen.«
Der junge Mann ging hinaus.
Jean warf den Rucksack aufs Bett und schaute sich um. »Nebenan gibt es sicherlich noch ein Schlafzimmer«, sagte er zur Seraph. »Du wirst dort schlafen, und ich werde unserem jungen Freund heute Nacht eine Abreibung verpassen, falls er sich zu dir stehlen möchte.«
Judith lachte. »Ich sehe nach, ob ich etwas ähnlich Bequemes finde wie dieses traumhafte Zimmer.« Sie verschwand durch eine Tür.
Jean sah sich in dem luxuriösen Raum um, dessen Decke gut und gerne fünf Schritte hoch war. An Ruhe war noch lange nicht zu denken, erst musste er den Wolfsbau auf den Kopf stellen, um Anhaltspunkte zu finden, wohin sich der Comte zurückgezogen haben könnte. Paris, Menorca, Afrika – oder sogar die Neue Welt?
»Nebenan ist noch ein Schlafzimmer«, sagte Judith und trat durch die Tür. »Mindestens so groß, dass fünf Seraphim darin übernachten könnten.«
Jean nickte. »Also gut. Beginnen wir.«
Nacheinander durchsuchten sie die vielen Zimmer, schauten hinter Bilder und Spiegel, überprüften die Bibliothek, klopften Holzverkleidungen an den Wänden ab. Zwar entdeckte Judith einen Hohlraum und brach ihn rücksichtslos mit einem Schürhaken auf, doch dahinter verbarg sich nichts weiter als ein geöffneter, leerer Geldschrank. Der Comte hatte seine Ersparnisse mitgenommen und seinen Schuldnern nichts als sein Land und seine Schlösser hinterlassen.
Es wurde bereits dunkel draußen, als Jean sich müde und erschöpft auf das Bett setzte und im Schein einer Lampe endlich etwas aß; Judith suchte noch weiter, sie stöberte vor allem in der Bibliothek.
Es schmeckte ihm nicht recht; Jean empfand jeden Bissen als zu trocken und spülte ordentlich mit Wasser und Rotwein nach, den er sich aus dem Keller geholt hatte.
»Ich habe etwas, Monsieur!« Sie stürmte mit geröteten Wangen herein und zeigte ihm einen Brief. »Das Schreiben eines Albert Lafitte. Er erwartet den Comte am 18. Juni bei sich zu Hause in Paris. Leider habe ich keine Adresse gefunden, aber …«
»Wir finden ihn.« Obwohl Jean wusste, dass er sich über diesen Hinweis freuen sollte, passte ihm nicht, dass er nach Paris musste. Für ihn war es wieder eine große, unbekannte Stadt voller Winkel und Gassen, in denen sich die Bestie besser als in einem Wald verstecken konnte. Dass der Comte außerdem von Leuten gesucht wurde, denen er eine halbe Million schuldete, machte es für Jean nicht einfacher. Diese Menschen würden sicherlich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihn in die Finger zu bekommen.
»Aber weswegen Paris?«, fragte er sich laut und zog die Stiefel aus, legte sich hin und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Das steht nicht drin, Monsieur.« Sie trat einen Schritt näher an ihn heran. »Ihr habt wieder Schweißperlen auf der Stirn. Dabei hatte ich gedacht, das
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