Sanctum
selbst ihren Weg auf das Heft des Dolches. Die Zeit für einen Angriff wäre perfekt: Passione war arglos und vollkommen ruhig. Sie würde nicht einmal die Gelegenheit haben, einen Schrei auszustoßen.
Doch was geschähe nach der Tat?
Man hatte ihn als Letzten zur Tür hineingehen sehen, und mindestens das Mädchen und der Adlige könnten es bezeugen. Man würde ihn zu Recht als Mörder suchen. Niemand würde ihm glauben, dass Passione eine Kreatur des Bösen war – was nichts mit ihrer Profession als Hure zu tun hatte.
Jean löste die Finger. Es ging nicht. »Danke, Madame. Ihr habt mir sehr geholfen«, verabschiedete er sich und deutete eine Verbeugung an. »Habt keine Angst, ich kümmere mich um ihn.«
Passione nickte dem Franzosen zu, ließ sich auf das Bett sinken und schloss die Augen. Als sie hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss, atmete sie erleichtert auf. Sie wusste nicht, welche Gedanken dem Fremden zu schaffen machten, sondern freute sich vielmehr, dass ihr unheimlicher Liebhaber bald aus Rom verschwunden sein würde.
Sie beschloss, heute früher aus dem Haus zu gehen. Der Comte sollte sie nicht noch einmal belästigen, denn genau das würde er tun, wenn er Lust verspürte. Sie hatte seine animalische Ader anfangs aufregend gefunden, die Nächte mit ihm waren anstrengend, doch unvergesslich. Eigentlich hätte sie ihn für die Erfahrungen und Höhepunkte bezahlen müssen und nicht er sie. Das hatte sich seit dieser Nacht, in der er vollkommen verrückt geworden war, geändert.
Passione warf die Decke ab und betrachtete ihren nackten Körper im Spiegel. Er war makellos, verführerisch und ohne eine Blessur. Unglaublich, wie gut er die Torturen durch den Comte ertragen hatte.
Sie zog sich an, griff nach der silbernen Haarspange, die sie schon sehr lange nicht mehr getragen hatte – und schrie auf. Schreck und Schmerz durchzuckten sie. Ein lautes Zischen … und was war das?
Passione starrte auf die geröteten Fingerkuppen. An einer hatte sich sogar eine Blase gebildet. Es sah aus wie … wie eine Verbrennung! »Was ist mit der Spange?«, raunte sie und betrachtete das Schmuckstück, das harmlos auf dem Tisch vor dem Schminkspiegel lag. »Wieso ist sie heiß?« Sie goss ein wenig Wasser darüber, aber nichts geschah.
Als sie die Spange probehalber mit dem Zeigefinger anstieß, verspürte sie wieder diesen Schmerz, Rauch stieg kräuselnd auf. Dieses Mal war das Fleisch aufgesprungen – und eindeutig verbrannt!
»Ein Fluch!« Passione bekreuzigte sich und schob die Spange mit einem Federkiel in den Nachttopf. »Ersauf darin, Hexenwerk!«
Sie hatte die Spange von Franca geschenkt bekommen, einer Bekannten, von der sie eine solche Freundlichkeit niemals erwartet hatte. Jetzt wusste sie, wieso. »Diese Hündin! Die Haare wollte sie mir in Brand stecken mit der Spange!«
Dieser Anschlag mit schwarzer Magie würde nicht unbeantwortet bleiben. Es gab Orte in Rom, an denen man für Geld die Dienste von Dämonen kaufen konnte, und eines dieser Wesen würde sich schon bald auf die Jagd nach Franca machen!
Sie kannte einen Mann, einen ihrer Liebhaber, der sich einem geheimnisvollen Zirkel angeschlossen hatte. Der Mann gab gern damit an, dass er seinen Reichtum einzig einem Wesen namens Baal verdankte und dass es keine stärkere Kraft gab.
»Baal wird dich fressen, Franca.« Passione nahm ihr Geld aus dem Versteck unter den Dielen hervor; schnell zog sie sich an und lief aus dem Zimmer, ging die Treppe hinab und verließ das Haus durch den Hinterausgang.
Sie stand hinter dem Gebäude in einer schmalen Gasse, über ihr waren Wäscheleinen gespannt; Tücher, Laken und alle möglichen Kleidungsstücke wehten im abendlichen Wind. In der Häuserschlucht herrschte Zwielicht. Die untergehende Sonne besaß nicht mehr genügend Kraft, um die verwinkelten Gässchen auszuleuchten, und ihre reflektierten Strahlen sorgten allenfalls für schummrige, blutrote Helligkeit.
Passione wandte sich nach links und eilte über das holprige Kopfsteinpflaster. Sie kannte die Adresse des Mannes, er lebte nicht allzu weit entfernt. In einer halben Stunde würde sie es schaffen. Sie bog um die Ecke in den Hinterhof, überquerte ihn und lief auf die Tordurchfahrt zu, die sie zurück auf eine der belebteren Straßen führte.
Als sie sich mitten in dem Bogen befand, wurde sie unvermittelt von hinten im Nacken gegriffen, herumgeschleudert und mit viel Wucht gegen die Wand gepresst.
Passione keuchte, sie spürte den Atem
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