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Sanctus

Sanctus

Titel: Sanctus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Toyne
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ein Notizbuch, klappte es auf und schrieb Datum und Ort oben auf die erste Seite. Das war Standard. Für Journalisten waren genaue Zeit- und Ortsangaben stets von großer Bedeutung.
    Als Nächstes zeichnete sie die Umrisse eines menschlichen Körpers und fügte aus dem Gedächtnis das Narbenmuster ein, das sie auf den Autopsiebildern gesehen hatte. Als sie fertig war, schaute sie sich das Bild an, jeder Strich ein Teil des Leidens ihres Bruders.
    Liv blätterte eine Seite weiter und kopierte die ursprünglichen Symbol- und Buchstabenpaare von der Zeitung sowie jedes einzelne Wort, das sie bis jetzt aus ihnen hatte bilden können. Dann studierte sie das Ganze, und schließlich bemerkte sie, dass sie insbesondere zwei immer wieder wiederholte: ›Sam‹ – natürlich – und ›Ask‹/›Fragen‹ in Englisch, ihrer gemeinsamen Muttersprache. Das war eines der wenigen Verben, die ihr eingefallen waren, und es klang wie ein Befehl.
    Livs Collegeprofessor hatte einmal gesagt, das Prinzip des Journalismus lasse sich mit diesem einen Wort zusammenfassen: Fragen. Er hatte gesagt, der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Reporter bestehe schlicht darin, wer die richtige Frage stellte. Und er hatte Liv auch beigebracht, sollte sie bei einer Story je nicht mehr weiterwissen, dann müsse sie sich die fünf W-Fragen stellen, um die Lücken zu füllen.
    Liv blätterte wieder weiter und schrieb:
    Wer? – Samuel
    Was? – Selbstmord
    Wann? – gestern Morgen gegen halb neun hiesiger Zeit
    Wo? – an der Zitadelle in der Stadt Trahpah
    Warum? – ...
    Ja, das war die entscheidende Frage: Warum hatte er das getan? Normalerweise hätte Liv nun mit jedem gesprochen, der das Opfer kurz vor seinem Tod noch gesprochen hatte, doch Arkadian hatte gesagt, das sei in diesem Fall unmöglich. Die Zitadelle sprach mit niemandem. Sie war das Schweigen im Zentrum.
    »So«, sagte die Bürovorsteherin und kehrte mit Livs Handy – mitsamt einem Akkuladegerät – und einem dicken Umschlag wieder zurück. »Das Taxi hat zwanzig Lira gekostet. Die Quittung liegt bei. Bitte, unterschreiben Sie ...« Sie hielt Liv eine Unterschriftenmappe hin.
    Liv unterschrieb und steckte das Ladegerät in die Steckdose. Das Display erwachte zum Leben, und das Ladesymbol erschien. »Sagen Sie«, wandte sie sich an die Frau, »mit wem muss ich hier sprechen, wenn ich ein paar Hintergrundinformationen zur Zitadelle haben will?«
    »Mit Dr. Anata«, antwortete die Frau. »Aber die ist mit der Mönchsgeschichte beschäftigt. Da hat sie wohl kaum Zeit für ... für einen Reisebericht ...«
    Liv atmete tief durch und zwang sich zu einem Lächeln. »Warum geben Sie mir nicht einfach trotzdem ihre Nummer?«, sagte sie und wünschte sich, sie hätte sich eine aufregendere Coverstory ausgedacht. »Versuchen kostet ja nichts.«

K APITEL 86
    Rodriguez sah sein altes Leben vorbeigleiten. Doch wo einst nur Schrottplätze gewesen waren, Ödland, ragten nun frisch verputzte Gebäude empor, Wohnungen für Menschen, die sich Manhattan oder auch Brooklyn nicht leisten konnten und sich deshalb mit der South Bronx zufriedengeben mussten. Aber je näher das Taxi dem 16. Bezirk kam, desto vertrauter wurde die Umgebung. In diesem Teil der Stadt war das Geld noch nicht angekommen, jedenfalls nicht die Art Geld, die man beim Finanzamt angibt, und als sie schließlich in Hunts Point ankamen, war es, als wäre Rodriguez nie weg gewesen.
    Der Fahrer hielt an der Garrison Avenue und drehte sich zu seinem Fahrgast um. »Weiter fahre ich nicht, mein Freund«, sagte er hinter der kugelsicheren Scheibe. Sie waren noch immer drei Blocks von der Adresse entfernt, die JJ Rodriguez gegeben hatte. Rodriguez schwieg. Er bezahlte den Mann einfach, stieg aus und ging zu Fuß weiter.
    Das Viertel mochte ja dasselbe geblieben sein, doch Rodriguez war in all den Jahren ein anderer geworden. Als er das letzte Mal hier gewesen war, war sein Leben von Angst und Misstrauen bestimmt gewesen. Jetzt wandelte er in Gottes Licht. Er spürte es auf seinem Rücken, als er durch die verdreckten Straßen ging. Und andere fühlten es auch. Rodriguez sah das an der Art, wie sie ihn anschauten. Selbst die Dealer an den Ecken und die Crack-Huren belästigten ihn nicht. Jetzt war er wie die Kerle, denen er früher aus dem Weg gegangen war: ein Mann voller Entschlossenheit. Furchtlos. Gefährlich.
    Rodriguez ging an einem ausgeschlachteten Wagen vorbei und an einem Geschäft mit Brandspuren an den vergitterten

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