Sanctus
Fenstern. Er erinnerte sich daran, den Laden früher einmal selbst angezündet zu haben. Damals war es eine Pizzeria gewesen. Er hatte Lumpen in einen Fensterspalt gesteckt, sie angezündet und von weitem zugeschaut, bis irgendwelche Kerle aufgetaucht waren, die das Feuer dann gelöscht hatten. Rodriguez hatte es schon immer gerne brennen sehen, und nun hatte er eine Flamme gefunden, die nie verlosch. Er spürte ihre Reinheit in seinem Herzen, und sie zeigte ihm den Weg in der Dunkelheit.
Das Haus sah genauso verlassen aus wie die gesamte Straße, doch Rodriguez spürte die Blicke, als er die Stufen hinaufging. Die Tür öffnete sich, bevor er sie erreichte. Ein Teenager in einem G-Star Hoodie duckte sich heraus, schaute die Straße hinunter und checkte Rodriguez ab. Er machte keinerlei Anzeichen, ihn reinzulassen. Irgendwo hinter ihm hörte Rodriguez Schüsse.
»Ist JJ da?«, fragte er.
»Lass den Mann durch!«, brüllte eine Stimme zwischen zwei Schüssen. Der Teenager blinzelte langsam und trat dann beiseite.
Im Inneren war das Haus vollkommen anders als draußen. Nach einem kurzem Flur kam man in einen Raum voller brandneuer Möbel und modernster Elektronik. Ein riesiges Aquarium beherrschte eine Wand, und ein Flatscreen so groß wie ein Doppelbett die andere. Zwei Kerle starrten wie gebannt auf den Schirm und ballerten mit virtuellen Waffen, während ihre echten neben dem Aschenbecher und einer Crackpfeife lagen. Kurz blickte einer der Männer auf und wandte sich dann wieder dem virtuellen Krieg zu.
»Gilly Rodriguez!«, rief er über die Ballerei hinweg. »Sieh dich an, Mann! Der Bart und so. Du siehst ja wie Jesus aus.« Er lachte über seinen eigenen Scherz.
Rodriguez lächelte nur, schätzte seinen alten Freund ab und sah einen Schatten dessen, was aus ihm hätte werden können. JJ hatte in den letzten sieben Jahren fast dreißig Pfund verloren, und seine Haut war inzwischen so grau wie die seiner Momma. Und er hatte Erfolg auf der Straße gehabt, wie man unschwer an seinen Kleidern und seinen Jungs erkennen konnte. Doch all die Jahre voller Kampf hatten auch ihren Tribut gefordert; seine Jugend war vorbei, und sein Licht wurde schwächer. Rodriguez gab ihm noch gut zwei Jahre, vielleicht weniger. »Schön, dich zu sehen«, sagte er. »Du siehst gut aus, Mann.«
JJ schüttelte reumütig den Kopf. »Nope, ich muss allmählich mal was kürzertreten. Vielleicht lass ich mir ja auch einen Bart wachsen, und dann kannst du mich deinem Schneider vorstellen.« Er drückte den Pauseknopf auf seinem Controller und gab ihn an den Teenager weiter. »Mach du weiter«, sagte er. »Knall mir ein paar Weiße ab.«
JJ wuchtete sich aus dem weichen Ledersofa und stellte sich vor Rodriguez. »Mann«, sagte er und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Bist du größer geworden?«
Rodriguez schüttelte den Kopf. »Ich war schon immer so groß. Du hast mich nur schon länger nicht mehr gesehen.«
Sie umarmten sich, stießen sich mit den Schultern und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken wie in alten Zeiten. Dann traten sie beide zurück und schauten einander verlegen an, denn die alten Zeiten waren vorbei.
»Hast du was für mich?«, fragte Rodriguez.
JJ griff in das Aquarium und holte einen Plastikbeutel hinter den Korallen hervor. »Du hast wirklich einen exotischen Geschmack, mein Freund.«
Rodriguez nahm den Beutel und untersuchte den Inhalt: eine Glock 34, ein Zusatzmagazin, ein Schalldämpfer und ein Plastikkasten mit einer Leuchtpistole mit dickem, kurzem Lauf.
»Wofür brauchst du das eigentlich?«, fragte JJ. »Hast du Angst im Dunkeln?«
Rodriguez schloss den Kasten wieder und nahm die Tasche von der Schulter. »Ich hab vor gar nichts Angst«, sagte er und warf seinem alten Freund ein Bündel Geld hin.
Er schaute zu, wie JJ das Geld zählte. Alle paar Scheine kratzte er sich dabei an der Nase, als jucke ihn etwas, das er einfach nicht loswurde. Seine Momma hatte das auch immer getan. Sie hatte so lange gekratzt, bis das Fleisch roh gewesen war. Rodriguez blickte zu den anderen beiden Männern im Raum, die weiter mit Pixelknarren aufeinander schossen. JJ würde es definitiv keine zwei Jahre mehr machen, dachte Rodriguez, und das auch nur, wenn er das Licht sah und Erlösung fand. Wenn nicht, könnte er von Glück sagen, wenn er Weihnachten noch erlebte.
K APITEL 87
Dr. Miriam Anata stand an einem Getränkeautomaten in der Nachrichtenredaktion des Lokalsenders, als die ›Ode an die Freude‹ in ihrem
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