Sanctus
wussten, dass sie überhaupt eins besaß, und noch weniger kannten die Nummer. Liv ging die kurze Anruferliste durch.
Für gewöhnlich nahm sie nicht ab. Wer auch immer sie anrief, sollte erst einmal auf Band sprechen. Das hatte sie sich nach der ersten Story angewöhnt, die sie für die Verbrechensseite geschrieben hatte. Damals hatte sie versucht, ein Interview mit einem besonders schlüpfrigen Anwalt zu bekommen, der einen wegen Bestechung angeklagten Immobilienmakler vertreten hatte. Als sie den Mann nicht erreichen konnte, hatte sie ihm ihre Nummer auf Band hinterlassen. Unglücklicherweise hatte sie dann aber nicht der Anwalt zurückgerufen, sondern sein Klient. Zu dem Zeitpunkt hatte sie gerade auf einem Kirschbaum gesessen und versucht, die Äste zu schneiden, und als der Kerl ihr aus heiterem Himmel die schier unglaublichsten Beleidigungen an den Kopf geworfen hatte, wäre sie vor Schreck fast vom Baum gefallen. Später hatte sie das alles niedergeschrieben, und die Beleidigungen waren zum Eckpfeiler ihres Artikels geworden.
Liv hatte zwei wertvolle Lektionen aus diesem Vorfall gelernt: Zum einen, dass sie nicht davor zurückschrecken durfte, sich selbst in die Story einzubinden, wenn sie so am besten rüberkam, und zum anderen, dass sie in Zukunft genau darauf achten sollte, wem sie ihre Nummer gab. So kaufte sie sich ein neues Handy, und das verwendete sie nur für die Arbeit. Ausgestattet mit neuer SIM-Karte und damit auch neuer Nummer diente ihr altes fortan nur noch für die Kommunikation mit Freunden und Familie. Jetzt schaute sie auf das Display. Sie hatte nur einen Anruf verpasst, und niemand hatte auf den Anrufbeantworter gesprochen.
Liv ließ sich die Nummer anzeigen. Sie war unterdrückt. Liv runzelte die Stirn. Soweit sie wusste, hatte jeder, der ihre Nummer besaß, keine Rufnummernunterdrückung aktiviert. Sie nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette, trat sie inmitten der feuchten Piniennadeln aus und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus zurück, um sich vom menschlichen Teil ihrer rührseligen Story zu verabschieden.
K APITEL 33
In der Kirche, die eine Seite des großen Platzes in der Altstadt beherrschte, ging es am Nachmittag stets besonders geschäftig zu. Irgendwie schien sie die Touristenheere magisch anzuziehen, die den ganzen Morgen durch die schmalen Gassen gewandert waren und zur Zitadelle hinaufgestarrt hatten. Die müden Besucher betraten den kühlen Innenraum und sahen sich sofort der Antwort auf ihre stummen Gebete gegenüber: Lange Reihen von Bänken aus polierter Eiche boten Raum zum Sitzen und Nachdenken, und das umsonst. Dabei war die Kirche kein Museum, sondern durchaus aktiv. Sonntags gab es zwei Gottesdienste, und wer wollte, konnte sich die Kommunion spenden lassen, und wer es brauchte, beichten.
Und diesen Raum betrat nun ein Mann. Kurz hielt er inne, um die Baseballkappe auszuziehen, als er sich vage an die Gebräuche an solch einem Ort erinnerte, und er wartete, bis sich seine Augen nach der gleißenden Nachmittagssonne an das Zwielicht gewöhnt hatten. Eigentlich hasste er Kirchen – sie jagten ihm stets einen Schauder über den Rücken –, aber Geschäft war Geschäft.
Der Mann drängte sich durch die Touristen, die an den Säulen hinaufschauten oder zu den Fenstern und dem Deckengewölbe. In jedem Fall waren alle Blicke gen Himmel gerichtet, ganz so, wie die Baumeister es beabsichtigt hatten, und so schenkte niemand dem Mann auch nur die geringste Beachtung.
Der Mann erreichte die andere Seite der Kirche, und seine Laune verschlechterte sich drastisch. Da saß gleich eine ganze Gruppe von Leuten ordentlich nebeneinander vor einer Reihe zugezogener Vorhänge. Kurz dachte der Mann darüber nach, sich vorzudrängeln, doch er wollte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen; also setzte er sich neben den letzten Sünder, bis ein Tourist ihm zaghaft auf die Schulter tippte und auf einen leeren Beichtstuhl deutete.
»Ist ... ist schon gut«, stammelte der Mann, vermied Augenkontakt und deutete in die Ecke. »Ich will in den da hinten.«
Der Tourist schaute ihn erstaunt an.
»Gehen Sie ruhig«, sagte der Mann. »Ich bin ein wenig komisch, wenn es ums Beichten geht.«
Der Mann kauerte sich auf der Bank zusammen. Normalerweise führte seine Tätigkeit ihn in die dunklen Ecken einer Bar oder auf eine Parkbank. Es fühlte sich irgendwie merkwürdig an, das in einer Kirche zu machen. Der Mann beobachtete, wie zwei weitere Sünder aus dem Beichtstuhl kamen; erst
Weitere Kostenlose Bücher