Sanctus
definitiv auch nicht selbstmörderisch veranlagt ...
»Wie alt ist ... war dieser Mann?«
»Ende zwanzig, vielleicht auch Anfang dreißig.«
Eindeutig nicht ihr Professor.
»Die Leiche weist allerdings einige unverwechselbare Kennzeichen auf«, sagte der Inspektor.
»Was denn für Kennzeichen?«
»Nun ...«, antwortete der Mann zögernd. Offenbar war er nicht sicher, ob er Liv noch mehr verraten sollte oder nicht.
Liv wusste aus Erfahrung, wie zurückhaltend Cops mit Informationen waren.
»Sie haben doch gesagt, sein Tod sei Selbstmord gewesen, korrekt?«
»Korrekt.«
»Nun, dann müssen Sie aus ermittlungstechnischen Gründen ja auch keine Informationen zurückhalten, wie es bei einem Mord der Fall wäre, oder?«
Wieder eine Pause. »Nein.«
»Warum sagen Sie mir dann nicht einfach, was für eindeutige Kennzeichen Sie gefunden haben, und ich werde Ihnen sagen, ob ich weiß, wer das ist?«
»Sie scheinen sehr gut darüber informiert zu sein, wie diese Dinge laufen, Miss ...?«
Nun war es an Liv zu zögern. Bis jetzt war es ihr gelungen, nur wenig von sich zu verraten, während der Anrufer ihr seinen Namen, seinen Beruf und den Zweck seines Anrufs genannt hatte. »Von wo rufen Sie eigentlich an, Inspektor?«
»Ich rufe aus Trahpah an. Das ist eine Stadt im Süden der Türkei.« Das erklärte den Akzent. »Sie sind in den Vereinigten Staaten, nicht wahr? In New Jersey ... oder zumindest ist die Nummer dort registriert.«
»Offenbar hat man Sie nicht umsonst zum Inspektor gemacht.«
»New Jersey ist doch der Gartenstaat, nicht wahr?«
»Ja, genau.«
Schweigen. Arkadians Versuch, Liv aufzulockern, funktionierte nicht. »Okay«, versuchte er es schließlich anders. »Ich will Ihnen einen Vorschlag machen: Sie sagen mir, wer Sie sind, und ich sage Ihnen, was für besondere Kennzeichen wir bei der Leiche gefunden haben.«
Liv kaute auf der Unterlippe und wog ihre Möglichkeiten ab. Sie wollte ihren Namen nicht preisgeben, aber sie war fasziniert, und sie wollte wirklich wissen, wer da mit ihrer Privatnummer rumgelaufen war und nun in einer Leichenhalle lag. Ein Piepen ertönte in ihrem Ohr. Sie schaute aufs Display. Ein Dreieck mit einem Ausrufezeichen blinkte über den Worten AKKU LEER. Normalerweise hatte sie gut eine Minute zwischen dieser Warnung und der automatischen Abschaltung, manchmal auch weniger.
»Mein Name ist Liv Adamsen«, platzte sie heraus. »Erzählen Sie mir von der Leiche.«
Sie hörte, wie der Inspektor auf einer Tastatur tippte.
»Narben ...«, sagte der Mann schließlich.
Liv wollte gerade eine weitere Frage stellen, als sie plötzlich den Boden unter den Füßen verlor.
Ende zwanzig, Anfang dreißig ...
Unwillkürlich drückte sie die linke Hand auf die Seite. »Hat die Leiche ... Ich meine, hat sie eine etwa fünf Zentimeter lange Narbe auf der rechten Seite ... wie ein Kreuz?«
»Ja«, antwortete die Stimme in mitfühlendem Ton. »Ja, das hat sie.«
Liv starrte stur geradeaus. Die I-95, der morgendliche Verkehr in Richtung Newark ... all das war vergessen. Stattdessen sah sie das Gesicht eines auf seine zerzauste Art hübschen Jungen mit blondem Haar, der auf der Bow Bridge im Central Park stand.
»Sam«, sagte sie leise. »Sein Name ist Sam. Samuel Newton. Er ist mein Bruder.«
Ein weiteres Bild erschien in ihrem Geist: Sam auf dem Asphalt des Newark Liberty International Airport, die Sonne im Rücken. Oben an der Gangway des Fliegers, der ihn zu den Bergen Europas bringen sollte, blieb er noch einmal stehen, drehte sich um und winkte. Das war das letzte Mal gewesen, dass Liv ihn gesehen hatte.
»Wie ist er gestorben?«, flüsterte sie.
»Er ist gestürzt.«
Liv nickte vor sich hin, und das Bild des goldenen Jungen verblasste wieder und wich dem schimmernden roten Fluss auf der Interstate. Das war genau das, womit sie schon immer gerechnet hatte. Dann erinnerte sie sich an etwas, das der Inspektor zu Beginn ihres Gesprächs gesagt hatte.
»Sie haben von Selbstmord gesprochen.«
»Ja.«
Weitere Erinnerungen kamen Liv in den Sinn, sorgenvolle Erinnerungen, die ihr das Herz schwer machten und die Tränen in die Augen trieben. »Wann ist er gestorben?«
Wieder folgte eine kurze Pause, bevor Arkadian antwortete: »Es ist heute Morgen passiert ... hiesige Zeit.«
Heute Morgen? Er hat die ganze Zeit über gelebt ...
»Wenn Sie wollen, kann ich auf Ihrem Polizeirevier anrufen«, sagte Arkadian, »den Leuten dort ein paar Bilder schicken und sie zu Ihnen bringen
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