Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
Vom Netzwerk:
Müßiggängern, über der
Landschaft und den Städtchen, die sich mit ihrer Bedeutungslosigkeit sichtlich
abgefunden hatten,
loderte als unerbittliches Verhängnis die Sonnenglut.
    Sie haben
keine Literatur, dachte er gleichgültig, in so einem Klima können sie gar keine
haben. In ihren Sprachen gibt es zu viele Konsonanten.
    Er hielt es
nicht der Mühe wert, sich zu Ehren der kleinen Häfen aus seinem Liegestuhl
aufzurappeln und sich unter die gaffenden Reisenden an der Reling zu mischen.
Es waren nicht viele; zum Großteil deutsche Touristen, laute, schnell einen
kumpelhaften Ton anschlagende Sommerfrischler, die schon in den ersten Stunden
nach der Abfahrt auf die soeben geschlossenen Freundschaften tranken. All das
übte wenig Anziehungskraft auf ihn aus.
    Provinzielles
Volk, dachte er nachlässig, sich mit geöffneten Augen in seinem bequemen Stuhl
räkelnd, ein provinzielles Schiff, eine provinzielle Landschaft, provinzielle
Verhängnisse. Es war ein Fehler, herzukommen. Ja, was war denn das, dachte er
gleich darauf, fast aufgeheitert, mit gutgelauntem Selbstvorwurf, was waren das
für neue Ansichten? Provinziell, was bedeutete denn das? Die Welt selbst war ja
im allgemeinen provinziell. Warum und seit wann klassifizierte er Landschaften
und Schicksale mit der Herablassung des Großstadtmenschen? Was für ein neuer
Standpunkt war das, die Sichtweise des Vortänzers eines Pariser Tanzlokals? Er
verstand es nicht. Und es ist doch provinziell, dachte er störrisch.
    Er fühlte
sich unbehaglich. Irgendwie war die Welt eng, verbraucht, die billige Welt
schwärmerischer
Ansichtskarten war das ... Und plötzlich begann er zu argwöhnen, daß er vor
dieser engen und stillen Welt Angst hatte, Angst davor, auf sich selbst
gestellt leben zu müssen, zwischen bescheidenen Sehenswürdigkeiten, die ihn
nicht ablenkten, und diese neue und ungewohnte Angst vor der »Provinzialität«
war nichts anderes als die heftige und quälende Sehnsucht nach der nolens
volens verlassenen Metropole. Man geht auf der Straße, schon allein das ist
ein gutes Gefühl, dachte er mit geschlossenen Augen. Doch er wagte nicht, sich
einzugestehen, warum es gut war, in einer bestimmten Großstadt auf der Straße
zu gehen.
    Jedenfalls
fürchtete er sich vor diesem »ganz kleinen Ort«, den ihm seine Familie und
seine Freunde in so anziehenden und hoffnungsvollen Farben ausgemalt hatten;
der Ort langweilte ihn schon jetzt. Auch das ist Schicksal, dachte er. Es war
ihm noch nie gelungen, an anderen als an langweiligen, soliden und
unbedeutenden Orten Urlaub zu machen. Die Umgebung eines Menschen zieht aus
seinem Naturell voreilige Schlüsse, doch vielleicht auch er selbst, auf ein
Verhalten, das dann ein Leben lang verbindlich bleibt.
    Alle, seine
Eltern, später seine Frau, sein Kind, seine Untergebenen und Arbeitskollegen
fanden es natürlich, daß er, Viktor Henrik Askenasi, immer nur an einem der
ganz kleinen Orte Urlaub machen konnte, also fern vom ordinären Lärm weltmännischer
sommerlicher Freuden, an einem außerordentlich seriösen und berüchtigt
langweiligen Ort, den
die »ordentliche Erholung« verschmähende, vulgäre Zerstreuungen liebende,
lärmende, tanzende, kreischende und leichtfertige Masse meidet wie die Pest.
    Wenn er
sich in ein Reisebüro verirrte und aufs Geratewohl Informationen über englische
Badeorte verlangte, konnte er sicher sein, daß ihm der ausgezeichnete, über
Menschenkenntnis verfügende Angestellte von den zahlreichen angenehmen
Urlaubsorten der großen Insel jenen einen vorschlagen würde, an den nicht
einmal eingewiesene Privatbedienstete gerne reisten, den mit Vorliebe
anglikanische Priester zum Zwecke einsamer geistlicher Übungen aufsuchten und
wo die Frauen in ihren abgetragenen Hauskleidern badeten.
    Vielleicht
wäre er sogar beleidigt gewesen, hätte jemand angenommen, daß auch er die Zeit
der Erholung an einem von primitivem Lärm und billiger Nacktheit geprägten
Küstenort verbringen wolle – jedenfalls kamen ihm jetzt Zweifel, ob es
tatsächlich die einzige vernünftige Form der »ordentlichen Erholung« sei, sich
längere Zeit an einem Ort aufzuhalten, an dem man sich im Grunde niemals,
nicht einmal für kurze Zeit aufhalten möchte. Zweifel stiegen in ihm auf, ob
es wirklich eine unabdingbare Notwendigkeit sei, daß die Erholung »ordentlich«
sein müsse – ob es sich wohl lohne, wie mit anderen unlösbaren Fragen seines
Lebens auch mit der »Erholung« zu experimentieren, ob es sich lohne,

Weitere Kostenlose Bücher