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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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die
Venedig trotzte, indem sie den großen Rivalen nachäffte und sich ihm
trotzdem nicht unterwarf, ist vielleicht nicht der »ganz kleine Ort«, zu dem
ich verurteilt bin; es ist Vertragsbruch und vereinbarungswidrig, also reizvoll
wie ein Abenteuer. Und lohnt es sich, beim Reiseprogramm konsequent zu sein,
wenn es bei mir mit der großen, der kardinalen Konsequenz ohnehin nicht stimmt
...?
    Und wie es
in solchen Fällen zu sein pflegt, fand er nach Art verstockter Verbrecher
Argumente und Gegenargumente in überraschender Fülle, er hielt eine hübsche
kleine Verteidigungsrede für das neue Reiseziel und gewann den Prozeß mit Leichtigkeit:
eine neue Welt, eine unbekannte Landschaft, die Sprache, die er nicht verstand,
eine primitive, erfrischende Neuartigkeit warteten auf ihn, wenn er sich die
griechische Insel schenkte und in der fremden, als reizvoll geltenden Stadt
Anker warf, wo man sich schließlich genauso »ordentlich« oder »unordentlich«
erholen konnte wie an den Schauplätzen homerischer Streifzüge.
    Sogleich
hielt er einen Schiffsoffizier auf und fragte ihn nach der Ankunftszeit; er
erfuhr, daß sie bereits vor Einbruch der Dämmerung in den alten Hafen einlaufen
würden. Mit schlechtem Gewissen, doch munter und in guter Stimmung, rappelte er
sich hoch, eilte in die Kabine hinunter und begann unbeholfen und hastig zu
packen. Viel Zeit war ihm nicht geblieben. Er stopfte die Kleider blindlings
in die Gepäckstücke und kümmerte sich jetzt nicht viel darum, ob er alle Sachen
beisammen und nichts vergessen hatte.
    Das
Vermissen, diese forschende und abwartende Unruhe, hatte sich jetzt in
erwartungsvolle Erregung gewandelt; er packte so entschlossen, als wäre ihm
endlich eingefallen, was er zu tun hatte, und nun müßte er sich beeilen, weil
in der fremden Stadt eine wichtige und unaufschiebbare Aufgabe auf ihn wartete.
    Während der
vier Tage, in denen er sich in der Stadt aufhalten sollte, dauerte dieser
Erregungszustand der »Aufgabe«, dieser Eifer der Pflichterfüllung unvermindert
fort. Zur Dämmerstunde, eine Station vor dem alten Hafen, war er mit dem Packen
fertig, er trank Tee und spazierte eine Zeitlang fast fröhlich, mit der unternehmungslustigen
Miene eines zur Tat bereiten Menschen, auf dem Deck auf und ab, nahm sogar
sein Fernglas zur Hand und betrachtete die Gegend, die er sich nun für einige
Zeit als Heimstatt gewählt hatte, mit herablassender Neugierde.
    Im Hafen
eines kleinen, aus dem bescheidenen Inventar von vielleicht fünfzig Häusern und
einem Glockenturm zusammengefügten Städtchens, wo eben die Post übergeben
wurde, bestieg ein neuer Passagier das Schiff. Damals hatte er die Szene nach
der Ankunft gleich wieder vergessen; erst viel später tauchte sie wieder auf,
mit schmerzlicher Eindringlichkeit, als er die Erinnerungsbrocken der
merkwürdigen Reise auswählte und zusammenstellte.
    Es mochte
sechs Uhr nachmittags sein. Er saß im Salon und versuchte, den Humor einer serbischen
satirischen Zeitschrift zu verstehen, eher aus den Zeichnungen als aus den für
ihn immer aufregenden Wortgestalten des fremden Textes. Durch das Dröhnen des
gedrosselten Schiffsmotors hindurch war vom Ufer her Stimmengewirr zu hören,
schließlich lautes Rufen, Kommandoworte. Er achtete nicht besonders darauf;
doch plötzlich wurde der Wortwechsel von überraschender Stille abgelöst. Die
Stille folgte dem Rumoren am Ufer so unerwartet, so jäh und auffallend wie ein
Signal.
    Er stand
auf und trat ans Fenster. Vom Hintergrund des mittelalterlichen Rahmens, der
schmalen Gassen und einstöckigen Häuser mit den drei Fenstern hob sich eine
fast malerisch gruppierte Menge ab – junge Burschen, Soldaten, Hafenbeamte,
junge und dürftig bekleidete Mädchen und Frauen, ihre Kinder auf dem Arm –,
alle drückten sich neben der Mole in eine Ecke des Platzes, wie von Schrecken
gepackt, zum Rudel aneinandergedrängt, wimmernd und fluchtbereit, selbst die
Soldaten mit abwehrenden Bewegungen.
    Er hob das
Fernglas und betrachtete das seltsame Bild unter der Wirkung des ersten
Eindrucks fast genießerisch, mit dem spontanen Wohlgefallen des Kenners. Nichts
fehlte: der Schatten des hohen Berges über der Stadt, die dichtgedrängten, von
einer ständigen Gefahr zusammengetriebenen Häuser und Menschen, einer Gefahr,
die jetzt, für einen Moment, eine bestimmte Gestalt angenommen hatte – und die
eigenartige Beleuchtung, das gebrochene Dämmerlicht, das mit hellem Orange die
schärferen Konturen und

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