Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
Vom Netzwerk:
wesentlichen Bewegungen des Bilds hervorhob. In der
klaren, dunstfreien Luft waren zwischen den Eisengittern des Campanile ein
kleinwüchsiger Gefangener und die bewegungslose Glocke zu sehen; die erschreckten
Gesichter, die düstere, zurückschaudernde Menge spiegelten abergläubisches
Grauen.
    Der Anblick
faszinierte ihn. Nach einer Weile lösten sich Gestalten aus der Menge,
geschäftige Männer in Uniform eilten, noch immer inmitten großer Stille, auf
das Gäßchen zu, das die Rückseite des Platzes in zwei Hälften teilte.
    Die Szene
ließ in ihrer ausgewogenen Bewegtheit eher an eine arrangierte
Freiluftveranstaltung als an das Chaos eines Marktereignisses denken. »Rebellion«,
dachte er unwillkürlich, als er das Volk betrachtete. Mit der Eigenmächtigkeit
des Kunstgenießers schenkte er der »Handlung«, also den auf das Gäßchen
zuhastenden Hauptdarstellern, gar keine Beachtung, sondern richtete sein
Fernglas auf die Menge, wählte Gesichter aus, beobachtete aufmerksam ihr
Mienenspiel; besonders eine alte Frau mit Kopftuch erwarb sich seine Anerkennung,
sie lachte zufrieden vor sich hin, offenbar mit der dankbaren Bereitwilligkeit
sehr armer Menschen, die sich auch über die kleinsten Variationen des Lebens
freuen können, und rieb sich in freudiger Erwartung die Hände. Minutenlang ließ
sich nicht feststellen, welcher Zauber welcher Erscheinung die Menge in seinem
Bann hielt. »Rebellion«, wiederholte er hartnäckig, mit dem Gleichmut und der Willkür des
Zuschauers, und wandte sich in seiner Loge dem Gäßchen zu, wo inzwischen der
Sinn der Szene offenkundig geworden war.
    Tatsächlich,
was er sah, war eine Rebellion – seine Nerven und sein Instinkt hatten das
seltsame Bild richtig gedeutet; aber welch merkwürdige, ungewöhnliche
Rebellion! Weder Prophet noch Volksführer war von den Felsen herabgestiegen, um
anläßlich der Gegenwart des durchreisenden Askenasi die Bewohner der uralten
Stadt auf die Jämmerlichkeit ihres Erdendaseins oder ihre ewigen Pflichten
hinzuweisen; der Rebell, denn inzwischen hatte er ihn erkannt, stand in
seltsamer Kleidung am Anfang des Gäßchens, mit ausgebreiteten Armen, als würde
er die Menge segnen oder verfluchen.
    Es war ein
kleiner Mann, er schien eine Uniform zu tragen, einen Soldatenrock oder eine
ungewöhnliche graue Kutte; seine auffallend langen Arme schwenkte er wie
Flügel. Alsbald scharte man sich um ihn, und Askenasi verlor die Gestalt aus
dem Sichtbereich des Fernglases. Allmählich verteilte sich die Menge, schlich
den Mutigeren hinterher, der ganze Platz war auf einmal in Bewegung, und in der
befangenen Stille war deutlich das Weinen eines Kindes zu vernehmen. Die Unruhe
und Erregung der Szene auf dem Marktplatz strahlte bis auf das Deck des
Schiffes aus. Nicht nur die Passagiere, auch die Mannschaft und die Offiziere
drängten sich an der Reling, als hätte sich jede Disziplin aufgelöst; einer
bleichen Frau wurde Wasser gebracht, ihr
war von der Szene, von der sie doch bislang nicht viel verstanden hatte, übel
geworden. Im Kreis seiner Offiziere stand auch der Kapitän an Deck und
beobachtete die Geschehnisse auf dem Marktplatz mit verschränkten Armen, ernst
und zurückhaltend. Touristen bedrängten ihn mit aufgeregten Fragen, erhielten
jedoch vorläufig keine Antwort.
    Zwei
Gendarmen brachten den »Rebellen« zum Schiff – die Menge machte unterwürfig
Platz, viele verneigten sich und schlugen ein Kreuz. Aus der zweigeteilten
Menge stolperte in seiner seltsamen, abschreckenden Uniform der kleinwüchsige
Mann hervor; an seinen dünnen Rockärmeln hielt ihn der Griff der Gendarmen, die
mit dem ständig Strauchelnden, der mit vorgeneigtem Oberkörper und tief
gesenktem Kopf dahinwankte, nur langsam vorankamen. Sie begleiteten einen
Geisteskranken, einen von der Wirkung seines Handelns und Auftretens
erschreckten nicht mehr jungen Mann, er sollte mit dem Schiff vom unzulänglichen
hiesigen Asyl in das Irrenhaus von Ragusa transportiert werden.
    Der Kranke,
den seine Eskorte durch eine untere, der Verladung von Waren und Gepäck
dienende Luke unauffällig an Deck zu schmuggeln bemüht war, wo ihn eine
separierte Kabine erwartete, »rebellierte« im letzten Moment tatsächlich; er
riß sich von den Gendarmen los, befreite mit einer heftigen Bewegung die lose
zusammengebundenen Ärmel der Zwangsjacke und begann zu laufen. Die Einwohnerschaft
des Städtchens, die sich mangels anderer Zerstreuung, zu dem seltenen
Spektakel, der Abreise eines Verrückten

Weitere Kostenlose Bücher