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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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»zu
rebellieren«. Und würde er sich wohl fühlen, wenn er es täte ...?
    Vielleicht
ist es schon zu spät, dachte er; ich kann keine neuen Masken mehr tragen. Es
war für ihn tatsächlich unvorstellbar, aus der gewohnten Welt hinauszutreten
und in ein lärmendes, riechendes Element einzutauchen, in jenes etwas
gewöhnliche »andere Leben«, an das er zwar insgeheim mit Heimweh, aber ohne
besondere Hoffnung dachte.
    Eine Lösung
gibt es nicht, dachte er mit geschlossenen Augen. Nur hin und wieder schlug er
sie auf, um schläfrig und matt zur Kenntnis zu nehmen, was die Inselwelt, an
der sie vorbeifuhren, gerade sehen ließ.
    Karmeliter
zu werden ist genausowenig eine Lösung wie Filmschauspieler zu werden. Eine
Lösung zu finden gehört nicht zu unseren Zielen; man muß es erdulden, das ist
alles. Vielleicht am Ende ... In diesen Dämmerzustand, wenn die Seele ihren kritischen
Widerstand aufgibt, ließ er sich während der kurzen Fahrt völlig hineinsinken;
Bilder, in der Zeit untergetauchte ferne Szenen, die mit der gegenwärtigen
Situation in keinerlei Zusammenhang standen, tauchten vor ihm auf,
Erinnerungsbilder von demütigenden, zu Recht oder zu Unrecht erlittenen
Kränkungen, die ihm in seiner Jugend widerfahren waren.
    Und er
verspürte nun jene seltsame, aufregende Müdigkeit, die der Wettläufer wenige
Meter vor dem Ziel verspüren mag: »Bis dorthin« hält er noch durch, unbedingt,
wie er auch bisher durchgehalten hat, seine Nerven und Muskeln funktionieren;
er wird mit Sicherheit ins Ziel kommen, nur soll dann jemand da
sein, der ihn auffängt, bevor er zusammenbricht ... Diese Reise, dieser »ganz
kleine Ort«, das war der letzte Meter vor dem Ziel. Vage ahnte er das
Zielband, die Anstrengung dauerte nicht mehr lang, in Kürze konnte er ausruhen.
Das ist keine Lösung, dachte er störrisch. Natürlich, nicht im geringsten, wenn
Viktor Henrik Askenasi jemand ist.
    Aber
vielleicht könnte er die Entfernung verringern? Die Idee elektrisierte ihn. An
die griechische Insel erinnerte er sich aus Reisen seiner Jugend – staubige
Kakteen entlang der Landstraße, Staub und schaler Ölgeruch auf dem Hauptplatz
des Städtchens, ein unkomfortables Hotel von zweifelhafter Sauberkeit,
verdächtige Baudenkmäler, abends Platzmusik ... Natürlich, das Meer. Doch die
einzige große Zerstreuung, die ihn, den Städter aus dem Flachland, seit seiner
Jugend mit seltsamer Vertrautheit angezogen hatte, breitete sich bereits hier
vor ihm aus – der »große Gemeinplatz«, wie er manchmal sagte, der »die Welt
bedeckte, als der Natur nichts mehr einfiel«, das Meer war ihm auf dieser
unliebsamen Reise entgegengeeilt; welche Anstandsregel oder Pflicht zwang ihn
denn, Lunge, Muskeln und Bewußtsein keuchend noch bis zu dieser Insel zu
strapazieren, die im Grunde nichts anderes war als eine Idee und zu der ihn
einzig und allein die Schiffskarte in seiner Tasche zog?
    Natürlich
war es ein Pflichtversäumnis, wenn er sein Reiseprogramm nicht einhielt. Doch
allein schon die Idee war anziehend, süß und ausschweifend wie
alle kleinen Sünden – und seine Laune hellte sich auf. Und was für eine blanke
diokletianische Welt war das hier entlang der Küste! Eine Welt ohne Literatur,
sicher! Die Literatur begann ein paar griechische Stunden entfernt, auf der
Insel mit dem Ölgeruch, mit der Agora , wo abends um diese Zeit
Platzmusik ertönte, wo Homer umhergestreift war, die Literatur begann ein
Stück weiter weg mit den Kakteen, mit Platon und der Idee.
    Das hier
war eine jungfräuliche, glückliche Welt geblieben, mit vielen Konsonanten und
leuchtenden kleinen Siedlungen, mit bescheidener und kaum pathetischer
Traurigkeit, die sich am Ufer des spinatgrünen Meers zwischen den Felsen verkrochen
hatte, mit der unbenennbaren, sehr feinen Höflichkeit aussterbender Arten, die
sich in den Blicken und im Gebaren der Menschen ausdrückte – die rührend
elegante und hilflose Höflichkeit der Todesangst, die er hier auch Ziegenhirten
und Hotelstubenmädchen anmerkte.
    Einige
Stunden noch, und sie erreichen die alte Stadt, die er einst nur vom Schiff aus
gesehen hat, trotzdem waren ihm ihre prächtigen, kompakten und künstlerischen
Proportionen, die gedrungenen Basteien, die aggressive Widersetzlichkeit ihres
Auftretens und ihrer Erscheinung im Gedächtnis geblieben. Die griechische Insel
lasse ich ausfallen, dachte er freudig, wie ein Schüler, der das Lehrbuch in
die Ecke schleudert. Die alte Stadt, diese rebellische und starke Stadt,

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