Sandor Marai
in Zwangsjacke, fast vollständig
versammelt hatte, nahm den Fluchtversuch des Kranken anfangs erschreckt, mit
fast abergläubischem Entsetzen auf – vielleicht war es diese große Stille,
die den Unglücklichen im ersten Moment umgab, vielleicht eine kurze,
verschwommene, teilweise Erhellung seines Geistes, die ihn veranlaßte,
innezuhalten und seine Verfolger nach einigen hastigen Schritten mit
ausgebreiteten Armen widerstandslos zu erwarten.
Da brachte
man ihn schon, mit großer Vorsicht; die Gendarmen, den Ausdruck einer Mischung
von Abscheu und Grauen auf den Gesichtern, jedoch mit dem Respekt und der
Nachsicht, die der Unantastbarkeit des Wahnsinns zukamen, faßten die langen
Ärmel der Zwangsjacke gleichsam nur mit den Fingerspitzen an. Freiwillig und
gehorsam nähert sich der Kranke dem Schiff, wo hinter der weit geöffneten
eisernen Luke des unteren Decks bereits die zur Bewachung abkommandierten
Matrosen warteten. Er ging langsam, zockelnd, gar nicht mit den Bewegungen
eines Menschen, eher mit denen eines müden Tieres, auf seinem kahlgeschorenen
Kopf klebte ein handtellergroßes Pflaster. Beim Schiff angekommen, stutzte er
und blickte um sich; es waren gar nicht die Menschen, die er betrachtete,
vielmehr – und Askenasi erinnerte sich noch lange an diesen Moment – sah er von
unten nach oben , mit gekrümmter Hüfte, ohne sich aufzurichten, mit lächerlicher
Anstrengung wandte er den Kopf zum Himmel, sich fast rechtwinklig neigend, als
wäre die Anziehung der Erde stärker, trotzdem reckte er den Kopf mit einer
quälenden, halsverdrehenden Neugier nach dem Himmelsgewölbe, das in diesem
Moment nurmehr vom rosafarbenen Widerschein der soeben hinter dem Horizont
verschwundenen Sonne erhellt wurde.
Askenasi,
der auf der Höhe des Decks fast genau über dem Ankömmling stand, fing diesen
Blick auf und erwiderte ihn; der Blick kam aus der Tiefe, buchstäblich, und
nicht nur aus der geringeren Höhe der Mole; sein hartnäckiges Leuchten drang
aus dem tiefsten Abgrund des grundlosen Elends des Lebens und des Daseins
überhaupt nach oben, zum Deck, zu Askenasi, zum Himmel. Wie aus einem fast
gänzlich erschöpften Kraftreservoir des Selbstbewußtseins leuchteten aus diesem
Augenpaar als verglimmende Fackelreste die letzten Lichtreserven der Seele.
Als würde es nicht länger nach dem Sinn oder Unsinn des Lebens suchen – in dem
Blick lag keine Antwort auf diese Frage –, heftete es sich mit der würdevollen
Neugier eines Kleinkinds oder eines hochentwickelten Tieres ohne Anschuldigung
und Klage noch einmal, ein letztes Mal, auf die Welt.
Diese
Neugier – später konnte er den Blick nicht anders deuten –, diese behutsam
vorwurfsvolle Uneingeweihtheit der Kreatur, dieses »so rede doch«, dieses
Drängen, dieses unwissende Interesse, das ihm aus dem Augenpaar entgegenschlug,
erschütterte
Askenasi; er versäumte nicht, auf seine Art zu antworten. Indem er den Strahl
des forschenden Augenpaars mit seinem Blick auffing, zuckte er, höflich und
gleichsam um Verzeihung bittend, mit einer kaum merklichen Bewegung mit den
Schultern. Auf eine solch persönliche, hilflose Frage, gestellt im belebten
Chaos der Straße, konnte er die Antwort nicht verweigern, auf dieses
Ratsuchen, das sich aus einem viel drückenderen und komplizierteren Chaos an
ihn wandte; er streckte, auf seine Jacke gelehnt, feige und vorsichtig, damit
die »anderen« (mit diesem Wort belegte er in diesem Moment seine Mitreisenden)
es nicht bemerken, einen Arm aus und bedeutete mit einer beruhigenden,
komplizenhaften Bewegung, daß der Sache keine allzu große Bedeutung beizumessen
sei, in Kürze werde alles in Ordnung kommen.
Bevor der
Kranke sich entschloß, auf den kurzen, an den Flügeln der unteren Luke
festgezurrten Laufsteg zu treten, der – als eine kleine Seufzerbrücke – für
ihn den letzten Weg zwischen der Welt und seinem Gefängnis bedeutete, wandte
sich das Marktvolk, das ihn bis dahin bestürzt, fast andächtig, mit
verdattertem Staunen umgeben hatte, in einer plötzlichen Anwandlung gehässiger
Wut gegen ihn, Schmähworte prasselten auf ihn ein, schließlich auch
verächtliche Gegenstände, verfaulte Rüben, Zitronenschalen, auch Härteres,
vielleicht Muscheln oder Kiesel.
Jetzt, wo
der Verrückte sich anschickte, im Schiff zu verschwinden, umringten sie ihn
unter Verwünschungen
und wieherndem Gelächter – mit der Wut, die dem Räudigen, dem aus der Welt
Geflüchteten, dem mit dem Stigma der Rache Gottes Gezeichneten
Weitere Kostenlose Bücher