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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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galt. Es dauerte
einige Zeit, bis die beiden Gendarmen die Absicht der Menge verstanden und
ihren Gefangenen entschlossen in das Innere des Schiffes bugsierten.
    Was nun
folgte, konnte Askenasi nur an den Auswirkungen erkennen, denn der Kranke verschwand
in diesem Moment aus seinem Blickfeld, und auch später, bei der Ankunft in
Ragusa, bekam er ihn nicht mehr zu Gesicht, sosehr er ihn auch suchte;
anscheinend warteten die Behörden, bis sich die Passagiere und die Badegäste am
Ufer verlaufen hatten, und nahmen ihren unangenehmen Gast erst dann in Empfang.
    Wie
Askenasi später hörte, hatten die diensthabenden Matrosen die Luke, durch die
der Kranke getreten war, nicht mit der Stahltür geschlossen, sondern vorläufig
nur ein Eisengitter vorgeschoben; die Menge drängte heran, und nun, da sie den
unheimlichen Mann, der außerhalb des irdischen wie des göttlichen Gesetzes
geraten war, noch für kurze Zeit, gleichsam hinter Gittern, sehen konnten,
schleuderten sie ihm die Schmähungen ihrer fremden und unverständlichen Sprache
mit unverhohlener Schadenfreude, Verachtung und Abscheu entgegen; in die
Beschimpfungen mischte sich kreischendes Gelächter, die Menschen wurden regelrecht
von einem Rausch ergriffen, offenbar lästerten sie den Kranken, den
Ausgestoßenen, den Krüppel, im
Geiste einer mittelalterlichen, in der Abgeschlossenheit ihrer Lebenssituation
instinktiv bewahrten uralten Tradition, mit der Wut der »Gesunden«, mit
schlechtem Gewissen und der Häme der Fröhlichen, Vollmundigen, das ausgelieferte
und ohnmächtige Elend ungestraft schmähenden Dreistigkeit.
    Später
erfuhr Askenasi, daß der Kranke, der die Flüche seiner Landsleute anfangs
gleichgültig aufgenommen hatte, sich im letzten Moment, bevor man ihn ins
Innere des Schiffes brachte, von den Matrosen losriß. Er stürzte an das
Eisengitter, das ihn von der Außenwelt trennte, streckte die Zunge heraus, schnitt
seinen Feinden Grimassen und grinste, mit den befreiten langen Ärmeln der
Zwangsjacke gespenstisch winkend, bis man ihn erneut packte und fortschleppte.
Auf diesen neuerlichen Frevel antwortete das Marktvolk mit gesteigerter
Empörung; der Kapitän gab rasch das Zeichen zum Aufbruch.
    Ausgezeichnet,
dachte Askenasi. Er lehnte sich wieder an die Reling und vertiefte sich in der
Sicherheit des auslaufenden Schiffes verständnisvoll und unvoreingenommen in
den Anblick der am Rand der Mole aufgebracht gestikulierenden Menschenmenge,
die sich zwischen Häusern und Felsen langsam zerstreute. Endlich ein
Reisegefährte, dachte er noch. Man ist nicht allein.
    An Deck
wurde der nicht eingeplante ungehörige Begleitumstand der Reise von gereizt
diskutierenden Gruppen erörtert. Die Tatsache, daß sich ein
behördlicherseits zuverlässig als verrückt qualifizierter Mitmensch auf dem
Schiff befand, erhöhte sichtlich den Zauber der Reise. »Ein Massenmörder« ,
hörte Askenasi mit halbem Ohr; denn einige Passagiere waren der Sache
nachgegangen und hatten sich erkundigt. Der »Rebell«, wie ihn Askenasi bei
sich hartnäckig apostrophierte, ein Wildhüter und Weinbauer aus der Umgebung,
hatte in momentaner geistiger Verwirrung angeblich seine Familie ausgerottet;
aber niemand wußte Sicheres darüber. Dergleichen komme häufiger vor, als man
denke, behaupteten manche; die Zeitungen würden möglicherweise gar nicht über
jeden Fall berichten. Zerstreut hörte Askenasi dem Schwatzen zu; hin und
wieder schielte er mit einem spöttischen, kaum merklichen Lächeln nach
denjenigen, die eine so alltägliche Abnormität, ein Verrückter und
Familienmörder, zu derart heftigem Protest reizte.
    Das Schiff,
an Bord die große Gruppe »gesunder« Reisender und der einzige offiziell
»Kranke«, bog in die große Bucht ein, und in der Ferne, in die graue Watte der
Dämmerung gepackt, begann das hochgeschätzte Juwel, Ragusa, mit dumpfem Glanz
zu leuchten. Während des letzten Abschnitts der Reise blieb Askenasi reglos an
jenem Platz, an dem er vor kurzem den neugierigen Blick des unerwarteten
Mitreisenden aufgefangen hatte; das Schiff steuerte zwischen Inseln hindurch,
und als es näher kam, zeigte die Bergkette des Ufers ihre wahren düsteren
Dimensionen. Das Meer war nikkelartig glatt, hart, hellgrau und glänzte.
    Die Welt,
dachte Askenasi und schürzte vorsichtig, damit es niemand bemerkte, seine
schmalen Lippen. Das andere Erlebnis. Er verschränkte die Arme. Mühselig suchte
er nach einer Definition, schon seit Tagen; auf das grundlose Gefühl

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