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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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des
Vermissens, das nicht vergangen war, sich nur abgeschwächt hatte, wie ein
großer körperlicher Schmerz ab einem gewissen Grad des Leidens sich
vorübergehend abschwächt, auf dieses Vermissen, dessen aufreizend schlechten
Geschmack er auch im Mund spürte, war vielleicht eine Antwort zu finden, wenn
er dem Unausgesprochenen, das »ihm auf der Zunge lag«, wie er höhnisch, mit ohnmächtiger
Anstrengung dachte, eine Form geben konnte.
    Landschaften,
die Welt, Masse, Menschen, das andere Erlebnis, dachte er unter Schmerzen. Er betrachtete
die Landschaft, die Welt, mit fast verächtlichem Blick. Das alles ist nur Folge ,
ging es ihm plötzlich durch den Kopf; und dieses eine Wort, das er seit Tagen,
oder vielleicht schon viel länger gesucht hatte, erfüllte ihn jetzt, als er es
gefunden, mit glücklicher Bestürzung, mit stechendem, fast wollüstigem Grauen.
Platon, dachte er dankbar und bewegt. Und als würde er, allmählich aus einem
Zustand der Besinnungslosigkeit erwachend, wieder die Zusammenhänge verstehen,
die Lage, in die er hineingeboren war, fädelte er all das Glänzende,
Vorbeiziehende und sich freiwillig Ordnende, das er sah, leicht und schnell am
Faden dieses Wortes auf; die Landschaft, die leuchtende Stadt, das Schiff mit den
Menschen darauf, die Folge also, die einfachen, fast banalen Folgen einer
gütigen, harmonischen und schöpferischen Idee.
    Aber es
gibt auch eine zerstörerische Idee! dachte er und erbebte. Unten im
Schiffsbauch, zwischen Kisten und anderen Folgen kauert sie, in ihrer
Jacke – als ob sich die Idee in eine Jacke sperren ließe! Eine andere,
zerstörerische – und nicht weniger »sinnvoll« oder »sinnlos« als die harmonische
und schöpferische ... Es gibt auch noch ein anderes Abenteuer, dachte er nun;
und alles, was er bis dahin gelernt, gefühlt, gedacht oder gelesen hatte,
schien unter der direkten Wirkung dieser Entdeckung zu verblassen.
    Er
betrachtete die Landschaft, langsam wandte er den Kopf seinen Mitreisenden zu,
die sich bereit machten, an Land zu gehen, herumspazierten oder sich wichtig
machten, fast mitleidig betrachtete er das alles, wie jemand, der die plumpen
Einschränkungen der »Wirklichkeit« nur mehr duldet, dessen Gepäck aber schon
für eine größere Reise bereitsteht und der nach so viel rohem Vorgeschmack
endlich das Echte kosten wird, von dem alles hier nur ein Nebenprodukt und
Kondensat ist. Er schauderte und barg sein Gesicht in den Händen. Lange stand
er so da.
    Die Stadt
mit ihrer hermetischen Masse, ihrer Abgeschlossenheit, wie sie danach
trachtete, hinter Bastionen und Mauern, natürlichen und künstlichen
Hindernissen irgend etwas Dazwischenliegendes, offenbar das Leben selbst, vor
der Welt zu
schützen, sie wirkte beruhigend auf ihn. Die schmalen Straßen, die meterbreiten
Gäßchen, wo der Spaziergänger mit ausgestreckten Armen die parallelen Hauswände
berühren konnte, wo kein einziges Fenster neugierig in die Welt lugte und alles
nach innen gerichtet war, den intimeren, behüteteren, begeisterteren,
menschlicheren Landschaftsbildern des Lebens entgegen, schienen für seinen
gegenwärtigen Zustand ein perfekter Rahmen. All das ist nur Rahmen, dachte er
mit zurückhaltender Hoffnung, für das Thema ist er zu eng; wo gibt es überhaupt
einen Rahmen, ob aus Holz oder Stein, der die Fülle einer Thematik einzufassen
vermag und nicht von ihrer fürchterlichen Brisanz gesprengt wird?
    Er dachte
an die deutschen Miniaturen, wo unter dem Glas tausend Menschen auf einer
handtellergroßen Fläche bequem Platz haben, obendrein als Hintergrund noch
eine Stadt und ein Friedhof; aber kein einziges richtiges Gesicht, mit allen
seinen Geheimnissen und Linien, würde mehr hinpassen ... So empfand er die
Stadt um sich herum, sie schien ihm zu eng, ein zu klein bemessener Rahmen,
innerhalb ihrer Grenzen konnte er nur innerlich zusammengekrümmt Platz finden.
    Eigenartige
Wirkung hatte auf ihn die melodielose Rätselhaftigkeit der fremden Sprache;
sein Sprachgebiet war die andere Küste, das Griechische und Lateinische, das
heißt die Literatur; doch hier, wenige Stunden von den Inseln der Literatur entfernt,
war die Seele sozusagen in den Kinderschuhen der
primitiven Sprache steckengeblieben, sie war schwächlich entwickelt und, wie es
schien, bereits verkrüppelt und nicht mehr lebensfähig ... Was hier Form war –
die Bauwerke, die Proportionen der engen Plätze, die Konzeption der
Verteidigung –, war von außen hereingeschmuggelt; diesen Formen,

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