Sandor Marai
daß
dieses gesteigerte, hingebungsvolle und energische Interesse der Gesellschaft
für eine eher schmerzliche und traurige als ausschweifende und zuchtlose
Privatangelegenheit, welche die außereheliche intime Beziehung zweier Menschen
im allgemeinen darstellte – und seine machte da keine Ausnahme –, daß dieses
Interesse nicht sosehr der Person galt, als vielmehr allgemeinen Prinzipien, zu
deren Verteidigung sich die zivilisierte Gesellschaft ihrer sämtlichen
Disziplinierungsinstrumente bediente.
Allmählich
verstand er, daß seine Umgebung, seine Familie, die Verwandten, sein
Freundeskreis, selbst die trefflichen Menschen, mit welchen ihn sein Beruf
verband und von denen er nicht angenommen hätte, daß sie sich neben der
allgemeinen Philologie und der vergleichenden Sprachwissenschaft auch mit
Privatangelegenheiten beschäftigten, vielleicht gar nicht ihn, den siebenundvierzigjährigen
Viktor Henrik Askenasi retten, nicht seine
Frau und sein Familienglück schützen wollten, daß sie auch nicht die
»Heiligkeit der Ehe« vor Augen hatten, sondern irgendeine unausgesprochene und
doch jedermann bekannte Übereinkunft, auf die sich die Gesellschaft der
Lebenden eingeschworen hatte und die nicht verletzt werden durfte, besonders
nicht von jenen, die zu den integrierenden und konservierenden Bestandteilen
dieser Gesellschaft gehörten.
Seine
Betroffenheit steigerte sich noch und erreichte möglicherweise ihren Gipfel,
als ihn eines Tages – in seinem Leben herrschte bereits völliges Chaos, er war
zu Hause ausgezogen und wohnte mit der Tänzerin zusammen, und, was das seltsamste
war, er lebte in diesem »unwürdigen« Zustand ohne »Schuldbewußtsein«, er
lehrte, arbeitete und fühlte sich ziemlich wohl dabei – der Vorsitzende jener
wissenschaftlichen Gesellschaft aufsuchte, deren bescheidenes, doch
anerkanntes Mitglied Askenasi war.
Der
außerordentlich verschlossene, in biblischem Alter stehende hochmütige und
unnahbare Greis wahrte bei seinem Besuch strenge bürgerliche Formen; er
schickte den Lohndiener des zweitklassigen Hotels mit seiner Karte in das
Zimmer hinauf, wo Askenasi schon seit Monaten gemeinsam mit der Tänzerin
wohnte, und schritt im Frack, den steifen Hut in der behandschuhten Rechten, so
vorsichtig und umständlich über die Schwelle der »Lasterhöhle« oder des
»Sündenpfuhls«, als würde er seinen Besuch einem Toten abstatten, einem zugrunde
gegangenen edlen Freund, den das Verhängnis in einer solch »unwürdigen«
Umgebung ereilt hatte.
Askenasi
war von dem Besuch zunächst überrascht, dann amüsiert, schließlich empört,
doch am Ende sah er sich zum Nachdenken veranlaßt und war erschüttert. Der
Greis, er war die Zierde der offiziellen Zusammenkünfte der wissenschaftlichen
Gesellschaft und stand in Fachkreisen im Ruf eines außergewöhnlich angesehenen,
sehr gründlichen und zuverlässigen, doch höchst beschränkten Mannes, verharrte
mit niedergeschlagenen Augen beim Eingang der »Lasterhöhle«, schlug den angebotenen
Lehnstuhl aus und begann mit vor Erregung zitternder Stimme zu rechten.
Askenasi, überzeugt,
daß der betagte Herr seine patriarchalische Einsamkeit nicht aus eigenem
Entschluß verlassen hatte, sondern geschickt worden war – von dieser schwer zu
definierenden Verschwörung, diesem »kleinen Komitee«, das in solchen Fällen
immer auf den Plan tritt –, hörte ihn geduldig an, und während der langen, mit
stockender, verschleierter Stimme vorgetragenen, allem Anschein nach ein wenig
einstudierten Rede beschlich ihn die verwirrende Empfindung, er träume oder
erwache vielmehr jetzt zum ersten Mal aus einem langen und quälenden Traum zu
einer Wirklichkeit, von der er bis dahin nichts gewußt hatte.
Er mußte
erfahren, daß es »keine Privatangelegenheiten gibt« – und das gelte nicht nur
für so hervorragende
Männer wie Askenasi; die Gesellschaft dulde allgemein keine
»Privatangelegenheiten«, wenn diese den Charakter der Rebellion trügen.
Askenasis Vorgehensweise – der Umstand nämlich, daß er seine Ehefrau, die er
nicht mehr liebe, verlassen habe und unter »unwürdigen« Bedingungen mit einer
Tänzerin zusammenwohne, die er liebe oder zumindest zu lieben glaube – erfülle
voll und ganz die Kriterien eines gegen die staatliche und gesellschaftliche
Ordnung gerichteten Umsturzversuchs; und auch wenn er es nicht aussprach,
seiner Stimme war anzumerken, daß dergleichen in Krisenzeiten, wie zum Beispiel
im Krieg, unbedingt mit dem Tode
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