Sandor Marai
bestraft würde. Das Bindemittel, das die
Gesellschaft zusammenhalte, sei ein außergewöhnlich heikler und für jede
äußere Einwirkung empfindlicher Stoff; wenn jemand mit schmutziger Hand an
seine bindende Kraft rühre, könne leicht die ganze Struktur brüchig werden.
»Jede
Privatangelegenheit ist wichtig«, sagte der Greis mit bebender Stimme, »und
besonders wichtig sind die Privatangelegenheiten jener, denen die Vorzüglichkeit
ihrer Abstammung oder ihres Geistes einen Platz in der Elite der Menschheit zugewiesen
hat.«
Nach diesen
Worten verspürte Askenasi den peinlichen Reiz zu einem Lachkrampf, er zündete
sich eine Zigarette an, um sich abwenden und einen noch größeren Skandal
vermeiden zu können. Im Verlauf des Besuchs legte der Greis den Talar des
Richters ab und flehte befangen, mit ehrlicher
Bewegung, sein hervorragender Freund möge »sich nicht zugrunde richten«,
sondern zu seiner Arbeit und in den Schoß der Familie zurückkehren, denn es sei
die Pflicht des edlen Mannes, seinen Leidenschaften zu gebieten. Zum Schluß
zitierte er den heiligen Paulus. »Wir Aufgeklärten«, sagte er wie jemand, der
geneigt ist, Zugeständnisse zu machen, »treten dem Mysterium der Heiligkeit
zuweilen mit den Zweifeln unseres schwachen Verstandes gegenüber. Doch der
heilige Paulus sagt: ›Die Ehe ist ein Geheimnis.‹ Denken Sie darüber nach.«
In diesem
Moment reichte der am Rande des Grabes stehende Mann ihm die Hand und sah ihn
so traurig und hilflos an, daß Askenasi ihn tief bedauerte. Er begleitete ihn
bis zur Treppe und kehrte nachdenklich ins Zimmer zurück. Er holte die Bibel
hervor, eines der wenigen Bücher, die er mitgebracht hatte, und schlug die
Briefe des heiligen Paulus auf. »Die Ehe ist ein Geheimnis«, las er
nachdenklich. Die Kraft des Ausdrucks erschütterte ihn. Der heilige Paulus war
ein guter Schriftsteller, dachte er. Einfacher kann man etwas nicht ausdrücken,
was nicht auszudrücken ist.
Das Buch
der Bücher in der Hand, ging er ins Badezimmer, wohin er die Tänzerin geschubst
hatte, als der seltsame Besuch gemeldet wurde, denn er wollte das Schamgefühl
des bejahrten Herrn nicht durch die Anwesenheit der »Sünderin« beleidigen. Er
fand Eliz auf dem Rand der Wanne sitzend, mit gesenktem Kopf, unvollständig
bekleidet, und war betroffen, sie das erste Mal weinen zu sehen. »Er hat recht«,
jammerte sie, sich auf die Worte des Greises beziehend; dann öffnete sie den
Hahn und fügte, während sie sich über das Wasser beugte, mit einem kindlichen,
schuldbewußten Seufzer hinzu: »Ein Geheimnis.«
Askenasi
verstand, daß die »Sünderin« etwas akzeptierte und anerkannte, was nach dem
Urteil der Frauen berechtigte Gegenwehr von Seiten der Gesellschaft war. Die
Tänzerin hielt sich im übrigen nicht lange bei dieser Feststellung auf; sie
zuckte die Achseln und begann zu baden.
Der Besuch
beschäftigte ihn tagelang; er faßte den Entschluß, dem Geheimnis »methodisch«
nachzugehen – auf die Methode hätte er um nichts in der Welt verzichtet, er
hatte sich daran gewöhnt. »Methodisch« machte er sodann nicht viele
Beobachtungen; doch zufällig und willkürlich um so mehr. Unter »nachgehen«
verstand er nachdenken, die Lektüre einschlägiger Literatur und direkte
Erfahrung, wo sich Gelegenheit dazu bot. Bis zu seinem siebenundvierzigsten
Lebensjahr hatte er keine Zeit gefunden, sich mit diesen Fragen zu befassen.
Die Erfahrungen, die er jetzt machte, erschütterten ihn in solchem Maß, als
wäre er von einem Tag auf den anderen auf einem unbekannten Erdteil gelandet,
wo ein anderes Klima herrschte, die Menschen eine fremde Sprache sprachen, sich
eigenartig kleideten und mit besonderen Zeremonien übernatürliche Mächte
verehrten.
Vor allem
lernte er die bemerkenswerte Organisation der Gesellschaft der Frauen kennen:
diesen geheimnisvollen
Nachrichtendienst, mit dem sie unsichtbar ständig in Bereitschaft waren, nicht
mit zusammenhängenden Worten, vielmehr mit Lauten und Zeichen, wie die Wilden
im Dschungel, die einander auch über große Entfernungen mit vorsichtigen
Lichtzeichen oder dumpfen Trommelschlägen vor drohenden Gefahren warnen. Auch
die Angelegenheiten anderer machten sie sich zu eigen und verbuchten mit
verblüffender Gewissenhaftigkeit jedes Indiz. Er mußte erfahren, daß jeder
seiner Schritte, also vor allem Handlungen und Entschlüsse, die er für
unwesentlich gehalten hatte, von den Frauen im Scheinwerferlicht öffentlicher
Kontrolle verfolgt wurde, und
Weitere Kostenlose Bücher