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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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nochmals, zuckte mit der Schulter und
eilte ins Hotel.
    Askenasi
folgte ihr nicht. Sein Blick fiel auf eine Kutscherkneipe nebenan, er nahm auf
der Terrasse Platz und bestellte ein Glas Bier; doch er rührte es nicht an. Um
drei muß ich im Institut sein, dachte er; das schien jedoch so
unwahrscheinlich, als müßte er um drei Uhr in Afrika sein. Starr betrachtete
er das Plakat des Varietés, einen Jongleur mit Zylinder, der bunte Kugeln in
die Luft warf. Wie lange soll ich noch warten, dachte er ungeduldig,
ärgerlich. Jetzt könnte sie wirklich schon kommen. Es schien, daß er schon
seit sehr langer Zeit hier wartete, seit siebenundvierzig Jahren, dachte er
flüchtig.
    In diesem
Moment trat die Fremde, wieder ohne Hut, aus dem Hoteleingang, kam geradewegs
auf ihn zu, mit langsamen, gleichmäßigen Schritten, blieb vor ihm stehen und
sah ihn an, ohne die Spur eines Lächelns, ohne ein Zeichen der Herzlichkeit
oder auch nur der Sympathie – wie man jemanden anblickt,
der einem seit Urzeiten bekannt ist, von dem man alles weiß und mit dem man in
solcher Vertrautheit lebt, daß es sinnlos und überflüssig wäre, ihm Vertrauen
und Zusammengehörigkeit mit besonderen Gesten zu bestätigen.
    »Venez« , sagte sie ohne jede Betonung.
Seite an Seite gingen sie ins Hotel, im Aufzug versuchte sie vergeblich, das
Licht einzuschalten, es funktionierte nicht. »Hier gibt es immer nur Ärger«,
sagte sie verdrießlich, während sich der Aufzug in Bewegung setzte.
    ***
    So
»unwürdig« hatte es
begonnen. In einem drittklassigen Hotel, wo Tänzerinnen wohnten, mit einer
Frau, die er auf der Straße kennengelernt hatte und der er in das fremde
Hotelzimmer folgte, in dem er sich unbestimmte Zeit aufhielt, obwohl er doch in
das Institut hätte gehen müssen, wo seine Studenten auf ihn warteten.
    Auch das
Hotelzimmer war auf so selbstverständliche Art bekannt; nicht nur, weil es mit
jedem Hotelzimmer Ähnlichkeit hatte: die Anordnung der Möbel, das auf das Bett
geworfene grüne Umhängetuch, eine große Hutschachtel und mehrere kleine
Gepäckstücke auf dem Tisch; nur die Tasche, die sie gemeinsam von der
Untergrundbahnstation bis zum Hoteleingang getragen hatten, sah Askenasi
nirgends. Alles war bekannt in diesem Zimmer, fast bis zum Überdruß bekannt. Irgendwie
befand sich alles am rechten Platz – wie in einem Raum, in dem man schon seit
Jahren lebt und sich vom Vorhandensein der Gegenstände nicht mehr zu überzeugen
braucht, es genügt, einzutreten, und schon weiß man, ob etwas fehlt.
    Es fehlte
nichts.
    Es war
später Vormittag, als er das Hotel verließ und auf die Straße trat. Die Zeit,
wie auch alle möglichen sonstigen Einheiten und Maße, zeigte sich in diesen
Wochen verzerrt und verändert. Verregneter Sonnenschein empfing ihn, aufbrausender
und zielbewußter Lärm. Ein paar Schritte ging er Richtung Étoile. Er kaufte
eine Zeitung und hätte sich nicht im geringsten gewundert, auf der ersten Seite
eine ausführliche Berichterstattung über seine Person zu finden, eine
Balkenüberschrift in der Art: »Tödliches Attentat auf Viktor Henrik
Askenasi, den Professor der Orientalistik, in der Avenue Wagram, gestern
nachmittag um drei.« Vielleicht auch ein Photo, untertitelt »das Opfer« oder
die Photographie des Hotels, in dem das Verbrechen geschehen war.
    Doch er
fand nichts dergleichen. Lediglich das Atelier eines Lichtspielarchivs war in
der Nacht abgebrannt, und ein ausländischer Ministerpräsident war in Paris
eingetroffen, um sich bei seinem Besuch eifrig für die Freundschaft mit
Frankreich einzusetzen. Das war Askenasi zuwenig. Er warf die Zeitung weg,
stieg in ein Taxi und nannte seine Adresse. Während der Wagen durch sonnendurchflutete
Straßen auf die Stadtviertel links des Flusses zufuhr,
nahm er das, was draußen zu sehen war, mit besonders lebhaftem Interesse wahr.
Es fiel ihm auf, daß gegenüber der Almabrücke ein neues Haus errichtet wurde;
seit fünfzehn Jahren kam er Tag für Tag hier vorbei, hatte jedoch das leere
Grundstück noch nie bemerkt.
    Er nahm den
Hut ab und hielt sein Gesicht in die Sonne. Ich habe eine Glatze, dachte er,
und gleich darauf: Ja, das wird jetzt anders werden. Er schloß die Augen,
lehnte sich in die Ecke des Wagens zurück, lächelte. Das eigenartige Gefühl
der Sicherheit, die Ruhe, die Überlegenheit der Stärke und des Berechtigtseins,
das ihn in den folgenden Wochen lange nicht verließ und das sich in seiner
Wirkung als wahrlich unwiderstehliche Waffe erwies –

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