Sandor Marai
alle wichen in dieser Zeit
geradezu vor ihm zurück, alles regelte sich so natürlich und einfach –, an diesem
Morgen, als er vom Hotel zu seiner Wohnung fuhr, füllte es ihn völlig aus. Zum
ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, gut zu sein. Das überraschte
ihn. Der Mensch ist nicht gut, dachte er argwöhnisch. Das liegt nicht in seiner
Natur. Er konnte sich kein Hindernis vorstellen, weder ein praktisches noch ein
moralisches, das er nicht mit Leichtigkeit überwunden hätte. Wie jemand, der so
unbedingt im Recht ist, daß man gar nicht mit ihm streiten kann, oder vielmehr
wie jemand, der im Überlegenheitsgefühl des eigenen großen Rechts den anderen,
die nicht im Recht sind, weil sie leider gar nicht im Recht sein können,
geduldig, geradezu als Trostspender gegenübertritt, empfand er es als
überflüssig, für das Geschehene irgendeine Erklärung zu suchen. Ich habe keine
Ursache, mich zu verteidigen, dachte er heiter und nachsichtig, eher bin ich
es, der Rechenschaft verlangen kann, warum ich so lange warten mußte. In dieser
Ruhe stieg er die Stufen zu seiner Wohnung hinauf, trat in die Diele, hielt
kurz inne, um dann, mit dem Hut in der Hand, geradewegs ins Schlafzimmer zu
gehen.
Seine Frau
saß im Lehnstuhl neben dem Fenster, in Straßenkleidern; im ersten Moment wußte
Askenasi nicht, ob sie schon lange so dasaß – vielleicht schon seit gestern
abend, oder war sie zeitig am Morgen aufgestanden und hatte sich angekleidet?
Das Bett war gemacht; war es seit gestern unberührt geblieben? Er setzte sich
ihr gegenüber an den Bettrand und schüttelte den Kopf. Sie blickte ihn ohne
einen Laut an; er hatte die Empfindung, dieses sehr weiße Gesicht jetzt zum
ersten Mal zu sehen, neugierig betrachtete er die bekannten, trotzdem völlig
fremden Züge. Eine schöne Frau, dachte er mit einer Art anerkennender
Ritterlichkeit. Sehr schön sogar. Viel schöner als die andere.
Einen
Moment lang verspürte er Lust, ihr das auch zu sagen; doch sogleich schämte er
sich, denn ihm fiel ein, daß ein solches Kompliment in diesem Augenblick,
unter diesen Umständen vielleicht nicht ganz angebracht wäre.
Zu sprechen
empfanden sie keine Notwendigkeit. Sehr lange saßen sie so da, reglos,
vielleicht Stunden; später erinnerte sich Askenasi, daß aus dem Nebenzimmer
das Klirren von Tellern zu hören war, es wurde für das Mittagessen gedeckt oder
der Frühstückstisch wurde abgeräumt, auch die Stimme seiner kleinen Tochter
hörte er, die mit dem Stubenmädchen flüsterte. Er hielt es für wahrscheinlich,
daß nicht nur Anna, sondern auch die Kleine, die Dienstboten, überhaupt alle
genau über das Geschehene Bescheid wußten, auch ohne Worte und Erklärungen:
Alle wußten, daß mit Viktor Henrik Askenasi im Alter von siebenundvierzig
Jahren etwas passiert war, was ebensowenig zu erklären, anzuklagen oder zu
ändern war, wie wenn ihn gestern nachmittag die Straßenbahn überfahren hätte
oder eine Krebserkrankung bei ihm festgestellt worden wäre; nun konnte niemand
mehr irgend etwas tun, Ruhe und Disziplin waren jetzt das wichtigste, man mußte
abwarten, wie es weiterging.
Am liebsten
hätte er ein freundschaftliches Gespräch begonnen, er hätte das Erlebnis gern mit
Anna geteilt, wie sie auch bisher alles geteilt hatten; er konnte sich nicht
vorstellen, daß Anna sich nicht freuen würde, wenn mit ihm etwas so Seltenes,
Großartiges und Außergewöhnliches geschah. Doch er fand nicht die richtigen
Worte zu dieser freudvollen Mitteilung. Die Worte, die er kannte und bis zu
ihren Wurzeln, ihren dunklen Ursprüngen verfolgen konnte, mit denen er arbeitete
wie ein Maurer mit den Ziegeln, dünkten ihn nun plumpe und unbrauchbare
Werkzeuge, aus einem fremden Material zusammengemurkst.
Wie es
aussieht, sann er, mit dem Hut in der Hand am Bettrand sitzend, Anna gegenüber,
mit der er fünfzehn Jahre zusammengelebt und in diesem Zimmer und in diesem
Bett geschlafen hatte, ist das Leben aus einem anderen Stoff gemacht, als ich
bisher angenommen habe. Auch die Sprache ist ein fremder Stoff, sie ist nur
Signal, Wegweiser, wie eine Bilderschrift. Um etwas zu sagen, müßte man die
Sprache erst übersetzen ... Dieser Gedanke beschäftigte ihn. Das lange
Schweigen war jetzt das einzige natürliche Instrument der Mitteilung, die
einzige Möglichkeit, etwas zu sagen. Er hatte das Gefühl, noch nie und mit
niemand so gut vorbereitet, so intensiv und mit einer solchen Fülle von
Argumenten disputiert zu haben wie während
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