Sandor Marai
dieses Schweigens.
Anna weinte
nicht; sie war sehr blaß, doch er konnte keine roten Flecken unter ihren Augen
erkennen; sie saß gerade, in etwas strenger Haltung, auf der Schulter ein
gehäkeltes Tuch, die Arme verschränkt. Vielleicht wird sie zugrunde gehen,
dachte Askenasi sachlich, flüchtig. Das wäre fürchterlich. Was könnte man
tun? Aber es fiel ihm keine Lösung ein. Zugleich wußte er genau, daß Anna nicht
zugrunde gehen würde, Anna ist viel zu stark dazu, auch jetzt, während sie ihm
gegenübersitzt, während sie disputieren, lauter als jedes Gebrüll, in dieser
anderen, stummen Sprache, in der »richtigen« Sprache, irgendeiner unbekannten
Muttersprache – er, Askenasi ist im Recht und trotzdem ist sie es, die ihn
überschreit. Sie wird die Stärkere sein, dachte er staunend,
wie jemand, der fassungslos die Hände zusammenschlägt, weil das Leben so
ungerecht ist – sie hält es aus, und ich werde zugrunde gehen! Das empfand er
als unbillig, unrecht, die Entdeckung verletzte seinen Gerechtigkeitssinn, mit
gerunzelten Brauen starrte er beleidigt vor sich hin.
In diesen
Stunden wurde endlich der entscheidende Prozeß seines Lebens verhandelt, und
er wußte das; ein wenig freute es ihn auch, wie man sich nach langer
Untersuchungshaft über die Hauptverhandlung freut, wie immer das Urteil ausfallen
mag, zugleich hätte er gerne protestiert, daß ein Irrtum vorliege, die Rollen
seien vertauscht worden, er sei hier nicht der Angeklagte, sondern der
Geschädigte. Anna musterte ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, fast schamlos
starrten sie einander an; als hätten sie irgendeine neue, grausame Nacktheit
aneinander entdeckt – eine Nacktheit, deren Anblick das Schamgefühl auf
geradezu unerträgliche Weise verletzt. Erzürnt sah er sie an, weil er nun die
Gewißheit hatte, daß sie die Stärkere sein würde, gegen jedes Gesetz und jede
Gerechtigkeit.
Er wußte,
daß etwas begonnen hatte – und es hatte gewiß nicht gestern nachmittag um drei
begonnen, in einem Hotel mit einer fremden Frau, und das, was begonnen hatte,
stand nicht nur mit Anna und der fremden Frau in Beziehung, beschränkte sich
nicht darauf, daß er jetzt gleich von hier fortgehen, diese Wohnung, sein Kind,
Anna, seine Arbeit, die ganze »Form« verlassen und sich zu einer anderen Frau
begeben würde, in eine andere
Wohnung, hinein in andere »Formen« – alles das war nur Zubehör und Detail
dieses Vorgangs oder Erlebnisses, dessen, »was begonnen hatte«, auch die Fremde
würde wieder aus seinem Leben verschwinden, doch der Vorgang würde fortdauern,
sein Inhalt, Gegenstand, Sinn war Askenasi selbst, und vielleicht nicht nur
das, was von ihm zu sehen war, wie er mit dem Hut in der Hand dasaß,
siebenundvierzigjährig, kahl und bebrillt, sondern etwas anderes – ein
persönliches Verhängnis, ein Ideal, das unter so unbedeutenden, zweitrangigen
Umständen scheiterte, wie Askenasi, dieses Zimmer, Anna und die Fremde im Hotel
es waren.
Anna mußte
man wirklich nicht erklären, was mit ihm geschehen war, es wäre sogar ungehörig
gewesen, es zu erklären – genausogut könnte jemand im Falle eines Erdbebens
erklären, daß er nichts dafür könne, und sein Bedauern ausdrücken, um
Verzeihung bitten, daß mit ihm zusammen eine Welt untergeht ... In diesem
Moment konnte er Anna seine eigene Befindlichkeit wirklich nicht erklären, um
so weniger, als er es auch einer anderen Anna nicht hätte erklären können,
denn auch er selbst begann erst jetzt etwas zu ahnen, stotternd und mühselig
wie ein Kind, das eine fremde Sprache lernt. Er brauchte Anna nicht zu
beteuern, daß er kein leichtlebiger Schürzenjäger war, der nächtens nach
Abenteuern Ausschau hält und sich jetzt heimgetrollt hat, wie nach einem
amourösen Ausflug ein Kater mit Katzenjammer.
Anna wußte
sehr genau, was das bedeutete, wenn er nach
fünfzehn Ehejahren in der Nacht nicht nach Hause kam. Sie wußte es so genau, daß
sie nicht weinte, nicht wehklagte, nicht die Polizei anrief, sondern sich nur
ans Fenster setzte, angezogen und ein Tuch um die Schultern, als würde sie sehr
frieren; und sie wachte.
Jetzt
begann auch Askenasi zu frieren, als wären sie beide plötzlich in eine kalte
Strömung geraten; er klapperte beinah mit den Zähnen. Ein wenig müde dachte er
auch daran, daß er das alles einmal würde »erklären« müssen – nicht Anna, die
ohnehin alles wußte und verstand und mit der er sich gerade »aussprach«,
genauer gesagt ausschwieg, sondern
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