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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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jemandem, vielleicht einem Richter oder
Priester, der es nicht verstand und ein Recht hatte zu fragen. Wie schwierig
wird es zu erklären sein, dachte er unwillig. Es gibt nichts Schwierigeres, als
eine Privatangelegenheit zu erklären.
    Natürlich
war auch er, Viktor Henrik Askenasi, nur ein Mensch voller Fehler, sündiger
Neigungen und Schwächen; doch er hatte zeit seines bisherigen Lebens einen
eigentümlichen Ton vernommen, keinen menschlichen, vielmehr einen musikalischen,
wenn auch nicht gerade melodiösen; solange er diesen Ton hörte, war mit ihm
alles in Ordnung, hatte er sich nichts vorzuwerfen; auch jetzt hörte er ihn.
Ja, er wird nun zu Fall kommen, weil Anna die Stärkere ist, doch auf saubere
Art, und bis zum Ende wird er diesen eigentümlichen Ton hören; und vielleicht
ist es gar nicht wichtig, ob er unschuldig oder schuldig zu Fall kommt ...
    Die
Menschen sind bequem, dachte er vorwurfsvoll, und es wird schwer werden, es
ihnen zu erklären. Sie haben ein paar fertige Begriffe: Freundschaft, Liebe,
Ehe, Abenteuer, Verhältnis; und sie glauben, das Leben paßt in diese fertigen
Begriffe hinein. Mitnichten paßt es hinein. Und was jetzt zwischen ihm und Anna
und der Fremden war, das war nicht »Ehe«, auch nicht »Abenteuer«, es hatte keinerlei
Namen und würde schwer zu erklären sein ... Gott sei Dank, Anna verstand es.
Sie verstand es so gut, als würde man ihr das Todesurteil vorlesen und fragen,
ob sie Gnade wolle. Natürlich will sie. Anna will ohnedies Gnade und wird sie
mit Dank annehmen, und er wird sie ihr geben, denn seinem Herzen ist das
Erbarmen nicht unbekannt; und wer mit Erbarmen unter den Menschen leben will,
ist verloren.
    Entweder
Erbarmen oder leben, dachte er. Anna weiß, daß ich das Erbarmen kenne, deswegen
ist es aus mit mir. Beinahe wäre er rot geworden. Jetzt empfand er tatsächlich
tiefe Scham. Er wandte den Kopf ab, blickte im Zimmer umher und schämte sich.
Dieses Zimmer, mit den Schränken, dem Bett und dem großen Spiegel, diese
Gegenstände, diese Anna, all das wird er niemals mehr aus seinem Leben tilgen
können, er wird es mit in den Tod nehmen.
Er fühlte weder Trotz noch Zorn, nur Trauer und Scham. Er wußte, daß er, egal
unter welchen
Umständen, dieses eigenartige, schaudernde Gefühl der Scham niemals mehr so
empfinden würde wie jetzt, Auge in Auge mit einer Frau, die
alles von ihm wußte, auch daß er bereit war, Erbarmen zu zeigen und sofort,
wenn er seine Handlungsfähigkeit wiedererlangte, erbarmungsvoll mit ihr
verfahren würde.
    Er senkte
den Kopf, rieb sich das Kinn. Die Menschen sind etwas bequem, dachte er
abermals mit stillem Vorwurf. Zum Beispiel Abenteuer. Zum Beispiel Ehe. Es
wollte ihm scheinen, daß die Ehe etwas sehr Schamloses war. Mit Anna kann man das wirklich nicht machen, rechtfertigte er sich, fast erschrocken, dazu ist
die Ehe nicht da. Das kann man nur mit Fremden machen; solange sie sich fremd
waren, konnte man es ...
    Es fiel ihm
ein, daß er Anna sehr geliebt hatte, mit ihr zusammen war alles sehr gut
gewesen, in den ersten Jahren ihrer Ehe, in diesem Zimmer, solange sie einander
fremd waren, solange ein Geheimnis zwischen ihnen lebte. Als das Geheimnis
vorbei war, begann die Scham. Er hätte sich am liebsten den Wintermantel
übergezogen, so sehr bibberte er in dem eisigen Klima. Anna wird ebenfalls frieren,
dachte er und streckte die Hand aus, um das gehäkelte Tuch enger um ihre
Schultern zu ziehen. Doch sie wich zurück.
    Das ist
kleinlich von ihr, dachte er. Man darf sich wirklich nicht böse sein; wohin
soll das führen? Ja, so sind die Frauen. Er stand auf und begann im Zimmer
umherzugehen, nicht ganz aufrichtig, demonstrativ ungezwungen. Auch Anna erhob
sich, trat zu ihm und nahm mit festem Griff seine Hände; sie standen in der
Mitte des Zimmers und sahen
sich aus nächster Nähe an. Aus Annas Haar stieg der bekannte Heuparfumduft auf,
der angenehme, sehr bekannte Geruch irgendeines Haarwaschpulvers.
    Das sind
die stärksten Dinge zwischen Menschen, dachte er. So ein Geruch. Davor kann man
nicht davonlaufen. Er legte seine Arme um Annas Hals, und nun standen sie eng
aneinandergedrückt, zwei Körper, die alles voneinander wußten, nicht nur Herz
und Gehirn, sondern auch die beiden Mägen, Leber und Milz, die ganze
Körperoberfläche. Lebensgefährlich, dachte er schwindelnd, als er sich
vorstellte, daß das jetzt alles getrennt werden mußte. Natürlich, darum geht es
ja, daß es lebensgefährlich ist. Sonst wäre nicht der

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