Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
Vom Netzwerk:
ersten bis zum letzten Buchstaben.
Etwas später konnte er sich Annas Gesicht und ihre Stimme nicht in Erinnerung
rufen; er begegnete der gleichen nebelhaften Blässe und Unverständlichkeit wie
bei Platons Worten. Stundenlang lag er im dunklen Zimmer und versuchte, sich
Annas Züge zu vergegenwärtigen, doch das Bild blieb verwaschen und fremd.
    An Eliz
erinnerte er sich mühelos, in allen Einzelheiten, als würde er sie hören und
sehen; so »flüssig«, wie er den seichten Zeitungstext verstanden hatte. Was an
Wissen und Kenntnissen in ihm war,
zerfiel spürbar, splitterte sich in zwei Bereiche auf; für den bekannten Stoff,
Anna, Platon, war er taub geworden; den fremden, billigen Stoff, den
oberflächlichen und minderwertigen, verstand er gut und nahm ihn mit einer Art
unmoralischer Vertrautheit und Eingeweihtheit weiterhin wahr.
    Eine
Zeitlang lebte er in völliger Gleichgültigkeit und Erstarrtheit; halbe Tage wanderte
er durch die Stadt und genoß ihren Lärm, wie einer, der nach einer starken
Explosion nur noch einzelne, besondere Geräusche vernehmen kann. Er unterhielt
sich mit Straßenmädchen und las gierig barbarische Zeitungsmeldungen. Der Stoff
der Erinnerungen teilte sich in ihm, und der eine Teil versank in taubem
Dunkel; der andere brach über ihn herein und umzingelte ihn kreischend mit
schriller Derbheit.
    Nach
einiger Zeit suchte er einen Arzt auf, der zuckte mit den Schultern. Dieser
Arzt, ein Jugendfreund und ehemaliger Kommilitone, sprach überraschend
aufrichtig mit ihm; Askenasi könne nicht ernsthaft erwarten, daß er ihm Pulver
verschrieb und »Erholung« empfahl wie den anderen, der »leidenden Menschheit«;
man sei dem eigenen geistigen Niveau entsprechend krank, und »für nervöse
Symptome« gebe es kein anderes Heilmittel als das Gegengift, das der Instinkt
des Kranken aus sich selbst heraus produziere.
    Askenasi
solle sein Leben prüfen, vielleicht sei er irgendwo in die Irre gegangen. Er
sprach warmherzig, gar nicht wie ein Arzt mit seinem Patienten, eher wie in
gemeinsamem Elend ein Mensch zum anderen,
traurig. Er fragte, ob Askenasi nicht zu Anna zurückkehren wolle; verlegen, mit
gesenktem Kopf hörte er zu, wie ihm Askenasi erklärte, daß das keinen Sinn
habe, weil er »sich nicht mehr an sie erinnere«.
    Am Abend,
einige Stunden nach dem Arztbesuch, erschien Anna bei ihm; hatte der Arzt sie
angerufen? Oder hatte man vielleicht gar kein Telephon gebraucht? Jedenfalls
war sie gekommen und zielbewußt in das fremde Zimmer getreten, wo Askenasi im
Dunkeln lag; sie fand den Schalter der Stehlampe sofort, kannte den Weg ins
Badezimmer, legte Hut und Mantel ab und setzte sich neben Askenasi auf das
Sofa. Sie nahm seine Hand und sprach von bekannten Dingen, erzählte von ihrer
kleinen Tochter (an die sich Askenasi nur dunkel erinnerte) und davon, daß auch
sie umgezogen sei.
    Alles, was
sie sagte, auch ihre Gegenwart, wirkte grau und verwaschen; Anna bewegte sich
und sprach, doch wie in einem Stummfilm, die Luft um sie herum blieb grau, er
sah weder ihre Farben, noch hörte er ihre Stimme, auch ihre Bewegungen machten
einen blutleeren Eindruck. Er empfand es als natürlich, daß Anna neben ihm saß,
jetzt, wo er taub war; sie hatte in Wirklichkeit, in der anderen, wahren
Wirklichkeit nicht aufgehört, mit ihm zu leben, künstliche Trennwände wie
Entfernung und Zeit konnten sie nicht daran hindern, in ständigem Kontakt mit
ihm zu bleiben. Er schloß die Augen, griff nach ihrer Hand, doch auch diese
Hand war bildhaft , eher Anblick als fühlbarer Körperteil – und auch
die Laute verstand er nur als Melodie, der Text war zerbröckelt und kam von
weither.
    Nun sah er
Eliz deutlich vor sich; und da verstummte Anna vielleicht schon. Eliz saß im
Taxi, bleich und traurig; der Wagen fuhr auf einer verregneten Straße,
irgendwo am Flußufer; sie trug das graue Kostüm, das Askenasi gut kannte, ihre
Hände, in gelben Handschuhen, lagen in ihrem Schoß, ihr Kopf ruhte auf einem
Kissen. Jetzt hob sie die Hand und wischte über die beschlagene Scheibe,
neigte sich vor und blickte hinaus. Irgendwo in der Nähe des Eiffelturms hielt
das Taxi, in einer unbekannten Straße, wo Askenasi noch nie gewesen war. Eliz
drückte dem Fahrer Geld in die Hand, mehr als nötig oder schicklich, fünfzig
Francs; Askenasi setzte sich auf und sah angestrengt auf den Taxameter, bevor
der Fahrer ihn ausschalten konnte, und stellte verärgert fest, daß Eliz den
doppelten Fahrpreis bezahlt hatte. Immer diese

Weitere Kostenlose Bücher