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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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doch Askenasi nahm beunruhigt wahr, daß sie nicht alles vollkommen
zum Ausdruck brachte. Deshalb verließ er Eliz eines Tages, mit ehrlichem
Bedauern, wie jemand, der sich fast schon am Ziel gesehen und viel für den
Versuch geopfert hat, nun aber gezwungen ist, sein Scheitern einzugestehen.
Eines Nachmittags zog er aus, so wie er gekommen war, genauso »gleichgültig«,
wie er Anna verlassen hatte, ohne Erklärung und Begründung.
    Überrascht
stellte er fest, daß Eliz die Trennung schwerer und mit weniger Würde ertrug
als Anna; sie verfiel in die Rolle der »Ausgenützten«, prophezeite ihm,
er werde nicht zur Ruhe kommen, »das Glück bei keiner anderen Frau finden«,
eines Tag werde er zu ihr zurückwollen, aber dann werde es bereits zu spät
sein; mit solchen und ähnlichen beschwörerischen, hexenhaften Drohungen
bestürmte sie den Abschiednehmenden, der ihr nachsichtig zuhörte, wie einem
tobenden Kind, und diesen Äußerungen keine Bedeutung beimaß.
    Eine
Zeitlang lebte er allein in einem Außenbezirk der Stadt; nach einer Weile
begann er wieder zu unterrichten, nahm die Arbeit an seinen unterbrochenen
Studien auf, verkehrte regelmäßig mit seinen Freunden, die ihn mit
hoffnungsvoller Miene empfingen wie einen endlich geheilten Schwerkranken, bei
dem jedoch ein Rückfall nicht auszuschließen ist. Anna suchte er nicht auf, und
von Eliz hörte er lange nichts. Wochenlang verschwendete er keinen Gedanken an
das »Abenteuer«; einmal sah er Eliz in einem Auto, in Gesellschaft eines
Mannes, den er nicht kannte, erfreut grüßte er sie mit einer herzlichen
Bewegung. Er freute sich aufrichtig, sie zu sehen, wie man sich über einen
lieben, ein wenig in Vergessenheit geratenen Bekannten freut, mit dem man sich
immer gern trifft, an den man dann aber wochenlang nicht denkt. Eliz erwiderte
den Gruß ernst und mit gesellschaftlicher Feierlichkeit; Askenasi fand dieses
Verhalten kindisch, er mußte lachen. Dann sah er sie wieder monatelang nicht,
und nur sehr selten fiel sie ihm ein.
    ***
    Einige
Monate nach der
»Trennung« – mit solcher Leichtigkeit wurde das Ereignis von dem kleinen
Komitee, dem Kreis der Bekannten und Freunde definiert, als wäre alles
etikettierbar, was mit Menschen geschieht –, nahm Askenasi eines Morgens
während der Vorlesung beunruhigende Symptome an sich wahr: Er bemerke, daß er
den Text, den er laut vortrug, schlichtweg nicht hörte. Er unterrichtete
griechische Geschichte, im Saal befanden sich ältere Hörer; er las Lykurgos,
die Geschichte der Inflation des spartanischen Metallgeldes, den Originaltext,
plötzlich stockte er, denn er hatte den Eindruck, seine eigene Stimme nicht zu
hören und auch den Text nicht völlig zu verstehen. Schleppend las er weiter,
während er seine Studenten, die mit mäßigem Interesse, doch mit ernster und
gutwilliger Miene zuhörten und offensichtlich nichts Ungewöhnliches bemerkt
hatten, aus den Augenwinkeln beobachtete.
    Vielleicht
bin ich taub geworden, dachte er erschrocken. Doch in diesem Moment knallte
auf dem Korridor eine Tür zu, und diesen bedeutungslosen Laut hörte er klar;
etwas später schneuzte sich jemand im Saal, und überhaupt nahm er jedes
derartige, von Menschen oder Gegenständen erzeugte Geräusch so deutlich wahr
wie bisher; nur seine eigene Stimme hörte er nicht, und der Sinn des
wohlbekannten Textes prallte an ihm ab, an einzelne Worte erinnerte er sich,
doch die Sprache, die griechische Sprache, die er so lange für seine zweite
Muttersprache gehalten hatte, war auf den Buchseiten vor
ihm so fremd, als würde er Persisch lesen, flüssig, aber ohne jede Kenntnis
... Mit einigen Worten der Entschuldigung unterbrach er die Vorlesung, verließ
den Hörsaal und eilte nach Hause.
    Er wohnte
in einem Grünviertel außerhalb der Stadtgrenzen, in einem abgelegenen
Einfamilienhaus, wo er zwei möblierte Zimmer mietete und wohin Anna einen Teil
seiner Bücher und einige Möbelstücke aus ihrer Wohnung geschickt hatte; daheim
angekommen, schloß er sich ein, schlug Bücher auf und begann laut zu lesen. Er
holte alte und bekannte Texte hervor und machte erstaunt die Feststellung, daß
die dumpfe innere Taubheit sich je nach Text änderte; er las Platon und hörte
nichts; er griff nach dem Morgenblatt auf dem Tisch und begann mit erhobener
Stimme den Leitartikel zu rezitieren, irgendeinen hochtrabenden Essay über die
kulturellen Aufgaben der französischen Kolonisation, und diesen seichten,
»profanen« Text hörte und verstand er vom

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