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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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würde, es hatte also keinen Sinn, sich damit abzugeben; diesen Gedanken empfand
er als Befreiung von einer unangenehmen Aufgabe, denn er hatte nie gern
gepackt. Er suchte ein sauberes Taschentuch hervor, besprengte es mit
Kölnischwasser und verließ das Hotel, ohne auch nur ein Wort mit dem Portier zu
wechseln. Er ging auf direktem Weg in die Stadt und begegnete auf der staubigen
Straße, die zu dieser frühen Nachmittagsstunde vollkommen menschenleer und
verlassen war, vom Hotel bis zum westlichen Stadttor keinem einzigen Bekannten.
    Einige
Minuten vor vier, keine Viertelstunde war vergangen, seit er über die Schwelle
des Zimmers Nummer zweiundvierzig getreten war, stand er bereits auf dem
Hauptplatz der Stadt, vor dem Tor des alten Regentenpalasts. Er hatte
Kopfschmerzen. Was nimmt man in einem solchen Fall? überlegte er. Doch weil ihm
nichts Klügeres einfiel, entschied er, daß man, wenn einem der Kopf weh tat,
auch »in einem solchen Fall« am besten ein Aspirin schluckte. Der heftige
Kopfschmerz hatte ihn unterwegs überrascht, wahrscheinlich nur eine Folge der
außerordentlichen Hitze, das verdarb ihm ein wenig die Laune; es ging ihm wie
jemandem, dem endlich eine angenehme Stunde gegönnt sein sollte, die er dann
doch nicht ungestört genießen kann.
    Er betrat
die gegenüberliegende Apotheke, wo er (laut Darstellung des Apothekers »mit
empörender Ruhe«) um Aspirin und ein Glas Wasser bat, das Pulver einnahm und
sich »höflich grüßend« entfernte. (Der Apotheker hob bei der Hauptverhandlung
diesen »freundlichen Gruß« mit Nachdruck hervor, als ganz außergewöhnliches
psychologisches Phänomen, das fast nicht zu erklären sei, wahrscheinlich hätte
er es verständlicher gefunden, wenn Askenasi statt dessen mit Messern geworfen,
Feuer gespieen und die Glastüren der Schränke
eingeschlagen hätte.) Natürlich hatte der Apotheker dem seltsamen Kunden auch
nachgeblickt und noch gesehen, wie er »auffällig langsam« über den Hauptplatz
schritt.
    Askenasi
ging tatsächlich langsam, weil sein Kopf schmerzte, er wartete auf die
lindernde Wirkung des Pulvers und hatte weder Grund noch Lust, auf der Straße
auf und ab zu rennen, was sich vielleicht ebenfalls seltsam ausgenommen hätte;
doch er hatte sich bereits beim ersten Verhör damit abgefunden, daß alles, was
er an diesem Nachmittag tat und sagte, »seltsam« und »auffällig« war; auch daß
er Aspirin kaufte und langsam ging. Natürlich waren die Zeugen auch in diesem
Fall »scharfblikkend« und wußten alles besser; so war es nun einmal, man
mußte es hinnehmen.
    Mit
auffallend langsamen Schritten spazierte er also durch eines der engen Gäßchen,
die den Hauptplatz mit der Dominikanerkirche verbanden, genoß die Kühle der
von der Sonne nicht erwärmten dicken Hausmauern aus Bruchstein, blieb vor dem
Schaufenster eines Kurzwarenhändlers stehen, nahm die Bündel von Strümpfen, die
mit Knöpfen gefüllten Schachteln in Augenschein und freute sich, daß er
Gelegenheit hatte, auch das noch zu sehen, zum ersten Mal in seinem Leben, denn
er hatte ein solches Schaufenster noch nie betrachtet. Überhaupt wirkte jetzt
jeder Gegenstand, jede Farbe und jede Linie mit sonderbarer Schärfe auf ihn,
als hätte er sich lange im Halbdunkel befunden, und jetzt wäre irgendwo eine
unsichtbare Lampe
aufgeflammt: Er bemerkte Gegenstände, die er noch nie wahrgenommen hatte,
selbst die einfachsten, alltäglichsten Dinge fielen ihm auf, ein Briefkasten,
eine Straßentafel, eine staubige Spule im Schaufenster des Kurzwarenladens,
eine weggeworfene Bananenschale auf der Straße, in einem Obergeschoßfenster
ein paar Blumen im Wasserglas.
    Er nahm die
Brille ab, zwar wurde die Welt um ihn herum eine Spur grauer, die Umrisse der
Gegenstände verwischten sich, doch auch so fielen ihm grellere Farben,
schärfere Linien ins Auge als sonst in der Vergrößerung des Binokels. Dieses
plötzliche schroffe Licht, in dem alles Sichtbare eine Erneuerung erfuhr und
auch das geringste Detail deutliche Konturen gewann, schmerzte ihn denn auch
ein wenig in den Augen; er blinzelte und spähte vorsichtig um sich. Zweifellos
bot die Welt ein helleres und farbenprächtigeres Bild als »zuvor«. Eine
optische Täuschung, dachte er. Doch alles, selbst die jahrhundertealten
schmutzigen Hausmauern, der Himmel und diese Gasse, das Glas in den Fenstern und
die Klinken an den Toren erschienen weniger abgenutzt, hatten den Reiz der
Neuheit, als wäre inzwischen ein Großreinemachen

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