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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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veranstaltet worden; wohin er
nur blickte, alles zeigte sich in sonntäglichem Glanz.
    Betroffen
begann er Umschau zu halten, gierig und voller Neugier, als würde er die wahren
Linien des Lebens jetzt zum ersten Mal sehen, als hätte eine seltsame
Kurzsichtigkeit, der auch die Brille nicht
abhelfen konnte, ihn bisher daran gehindert, die Dinge und deren Gesamtheit,
das Universum, in ihrer wahren Realität wahrzunehmen, als wäre er plötzlich von
einer rätselhaften Augenkrankheit geheilt, die er bisher nicht beachtet und die
achtundvierzig Jahre lang alles um ihn herum in ein Halbdunkel getaucht hatte.
    So schön ist also die Welt, dachte er nach einigen Minuten aufmerksamen Prüfens in
kindlich aufwallender, fast jubelnder Verzückung. Was für eine Pracht! Wie
viele Farben sie hat, welche wunderbaren Winkel und Linien ... Sie haben es
doch nicht geschafft, sie zu verschleißen ...! Wie schön das alles ist! Zur
Freude, Ruhe, Zufriedenheit und dem angenehmen, kribbelnden Gefühl des Ausgesöhntseins,
das ihn, seit er durch die Tür des Zimmers zweiundvierzig getreten war, keinen
Moment mehr verlassen hatte, gesellte sich nun diese Verzückung, dieser
wollüstige höchste Grad der Wahrnehmung. Er konnte gar nicht genug davon
bekommen, drehte und wendete den Kopf nur langsam, als fürchtete er, zuviel von
den frischen Reizen in sich hineinzuschlingen, wenn er eine größere Fläche auf
einmal überblickte, als könnte er die dichte, unüberschaubare Masse höchst unmittelbarer,
erstklassiger Eindrücke gar nicht verdauen. Sie stürzten mit solcher Kraft und
Fülle auf ihn ein, daß ihm zu schwindeln begann; er flüchtete sich in
Einzelheiten, vorläufig wagte er nicht, zum Himmel oder in der Straße weit
voraus zu blicken, vorsichtig wählte er sich eine Dachrinne, einen
Kaffeehaustisch, ein Menschengesicht. Und wie im dunklen, farblosen, leeren
Okular eines Mikroskops auf einmal eine unbekannte Welt mit deutlich
erkennbaren Lebewesen zum Vorschein kommt, wie das bis dahin unsichtbare
organische Leben erwacht, das ein Wassertropfen in sich birgt, eine Flora und
Fauna zu sehen sind, wo bis dahin nichts zu sehen war, Leben, unzerstörbares,
sich in reichen Formen ständig veränderndes und vermehrendes Leben, wo zuvor
nur gleichgültige und karge Materie erkennbar war, so sah er jetzt die mikroskopischen
Bereiche, die er mit seinen Blicken beleuchtete.
    Er spürte
überschäumende Freude, die Welt, in der er bisher nur gelebt, die er für
schmutzig und abgenutzt gehalten und nicht besonders beachtet hatte, von neuem
zu sehen; zugleich erinnerte er sich, daß er sie schon einmal so gesehen hatte,
vor langer Zeit, in ihrer paradiesischen Frische, vielleicht in seiner
Kindheit, als er sich in der Wiege aufsetzte und die Lampe betrachtete, oder
eine Hand, die vor seiner Nase gestikulierte ...
    Jetzt
schien es ihm, daß auch die Menschen, die ihm auf der Straße entgegenkamen,
langsamer gingen; nicht nur Gegenstände und Erscheinungen sah er schärfer, in
echten Farben, auch die Geschwindigkeit von Bewegungen empfand er ganz anders
als zuvor. Diesen Eindruck hatten früher Zeitlupenaufnahmen auf ihn gemacht,
eine Hand bewegte sich sehr langsam, ein Hut schwebte in der Luft, jede Bewegung
und jeder Ablauf zerfiel in Momente,
Laute zersplitterten in mehrere Teile. Das ist irgendein neuer Sinn, dachte er,
ich kann wieder so sehen und hören wie früher. Er blieb stehen, schloß die
Augen, dieses Glück war zuviel, es war fast unerträglich, die Welt noch einmal
sehen, hören und verstehen zu dürfen, als würde er, inmitten des vielen
Wunderbaren, das es zu sehen gab, erst jetzt geboren.
    Wie oft
habe ich mich gelangweilt, dachte er mit trauriger Selbstanklage. Ich habe im
Dunkeln gesessen und mich gelangweilt. Wie wundervoll ist das alles ... Er
stützte sich an einer Hauswand ab und sah plötzlich in den Himmel, als hätte
ihn die Wonne, die ihm die niederschmetternde Schönheit eines langersehnten
Anblicks bereiten würde, im voraus erbeben lassen. Wie sieht der Himmel aus?
dachte er, als er die Augen hob, ich erinnere mich gar nicht mehr an seine
Farbe ... Der Himmel war fahl, weder blau noch weiß, Askenasi starrte mit geweiteten
Augen in die Höhe, als wäre endlich auch für dieses Wagnis die Zeit gekommen.
Durstig und ohnmächtig spähte er in die farblose Tiefe.
    Zeitungen
habe ich bis jetzt gelesen, dachte er mit Scham und Ärger, nie habe ich zum
Himmel aufgeschaut, sondern habe Zeitungen, Wörterbücher und

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