Sandor Marai
Tiefgang jedoch nicht mehr anlegen konnten. Irgendwo spielte
jemand Harmonika.
Zu beiden
Seiten der Mole, über die Spaziergänger trotteten, lagen Motorboote, die von
Matrosen in blauen
Trikots für die Nacht mit Planen abgedeckt wurden. Das große englische Schiff
befand sich bereits weit draußen in der Bucht, es wirkte ganz klein, wie ein
Spielzeug, und zog seinen Rauch als feierlichen Witwenschleier über das glatte
Parkett des Wassers. Wie viele Menschen, dachte er mißvergnügt. Überall
Menschen ... Er betrachtete die Insel gegenüber, dieses fast beleidigt Abstand
haltende Stück Erde, das der Schein der untergehenden Sonne mit dunkelgelber
Kreide dick umrandet hatte, gewissermaßen in der allgemeinen Unsicherheit
diesen sicheren Punkt markierend, so wie nächtens im Gewühl von
Großstadtstraßen das Neonlicht die geschützteren, verläßlicheren Zufluchtsorte
weist.
Er ging die
Mole entlang, wählte eines der leichten Ruderboote und verhandelte mittels
Zeichensprache. »Una hora« , sagte der Besitzer, ein alter Dalmatiner
mit Strohhut, der barfuß, in zerlumpter Hose und ohne Hemd dastand wie ein
Hirte inmitten seiner in den Pferch heimgekehrten, in der Dünung klatschenden,
dumpf aneinanderschlagenden Booten.
Askenasi
sprang in das Boot, warf seine Jacke auf die Bank – dicht über der glatten
Wasseroberfläche hielt sich noch eine warme Schicht der dunstigen Luft, in
Ufernähe stieg Dampf aus dem Wasser –, griff nach den Rudern und richtete den
Bug des Bootes auf die Insel. »Una hora!« wiederholte der Alte in
mahnendem Tonfall und deutete mit seinem verstümmelten Zeigefinger Richtung Sonnenuntergang,
auf die mit rotem Licht besprenkelte Himmelsgegend. Zwei Frauen standen auf
der Mole, eine alte, verwahrloste, und eine junge, deren weicher Körper in
Lumpen gehüllt war und die in wohliger Selbstvergessenheit ein kleines Kind an
die volle Brust drückte. Die beiden Frauen und der Bootsbesitzer blickten dem
Davonrudernden, der diese späte Stunde für seinen Ausflug gewählt hatte, noch
lange nach. Gegen Morgen waren sie es, die schließlich den Gendarmen die
Richtung wiesen.
Er ruderte
ohne Mühe, das Wasser setzte den Ruderschlägen kaum Widerstand entgegen, und es
war keine halbe Stunde vergangen, als er den leeren Hafen der Insel erreichte,
eine primitive Anlage, die nur aus ein paar Natursteinen und an Pfählen
befestigten Seilen bestand.
Mit einem
Tritt übergab er das Boot der Strömung, zog seine Jacke an, denn er war
schweißnaß von der ungewohnten Betätigung, und begann, langsam den steilen
Pfad hinaufzusteigen, der zum Aussichtspunkt der Insel führte.
Es war noch
hell, als er oben ankam.
Das
Zwiegespräch
Die
Insel hatte die
Form eines unregelmäßigen Rechtecks; sie ragte aus dem Meer wie ein verirrtes
kleines Gebirge, das unruhig in die Welt hinausspäht und nicht mehr zu seiner
vielköpfigen Familie zurückfindet. Von hier oben überraschte ihn die Ausdehnung
dieses verlorenen Brockens Erde. Ringsum sah er dichten Wald, Nadelbäume mit
rötlicher Rinde und hohen Wipfeln. Jetzt, zur Dämmerstunde, verbreiteten sie
einen säuerlichen Duft, der sich mit dem bitter-herben Geruch des tagsüber
geschmolzenen Harzes mischte. Er setzte sich am Fuß eines Baumes nieder,
schnaufend, denn er war auf dem steilen Weg außer Atem gekommen. »Hier hat
einst ein Kaiser gelebt.« Unterwegs hatte er Ruinen gesehen. Und mechanisch,
gehorsam aus alten Beständen: »Maximilian.«
Er schloß
die Augen und saß mit verschränkten Armen reglos da. In der durchdringenden,
fast stofflichen Stille (wie Glyzerin, fiel ihm ein, und tatsächlich hatte sie
etwas von einer geruch- und geschmacklosen sirupartigen Flüssigkeit) hörte er
auch noch hier oben das Geräusch des Meeres. Die Flut grub sich mit dumpfen
Detonationen in die Felsen der Insel, und das ferne Tosen zersplitterte in
dieser noch nie erlebten, von jedem künstlichen Lärm
verschonten Stille zu einzelnen Noten. Tonleiterartig wiederholte sich das
Rumoren des Meeres, es erinnerte an eine aufsteigende und fallende Melodie,
sie war weder traurig noch heiter, sondern befand sich jenseits der Grenze, wo
das menschliche Ohr noch Musik wahrnahm, er fühlte nur den Rhythmus, und
dieser Rhythmus hatte eindeutig keine Absicht, irgend etwas auszudrücken.
Das Meer
hat nichts zu sagen, dachte er mit geschlossenen Augen. Eine Möwe flog über
die Insel hinweg und schrie heiser; es war der erste und letzte Laut eines
Lebewesens, den er in dieser Nacht
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