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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Fremde
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sorgfältig in
seinen Taschen verstaut hatte und ohne den er noch vor kurzem weder reisen
noch ausruhen, essen oder schlafen konnte. Das alles hatte nicht er zusammengetragen,
das Leben hatte ihm die Taschen mit diesem Krimskrams vollgestopft, eine fremde
Kraft, ein unbekannter Wille, gegen den es keine Verteidigung gab.
    Er zog sich
aus, die Hose legte er wie seit seiner Schulzeit an der Bügelfalte zusammen,
seine erste Erfahrung mit einer langen Hose fiel ihm ein, und der Ärger, als er
sie am Morgen mit doppelter Falte unter der Matratze hervorzog, wohin er sie am
Vorabend mit der Freude eines Stutzers gebreitet hatte, um sich das Bügeln zu
sparen. Die Schuhe stellte er an den Fuß einer Kiefer und bemerkte, daß er die
Schuhspanner nur ungern entbehrte ... Auch die Wäsche legte er ab und tat nackt
einige Schritte.
Die vermoderten Nadeln stachen ihn in die Sohlen, doch er gewöhnte sich bald an
diese kribbelige Unannehmlichkeit. Er stand im Mondlicht, hoch über dem Meer,
und besah seinen bloßen, jeder Zier und Bedeckung beraubten Körper, der so
eigentümlich-gelblich phosphoreszierte wie die Wachskörper im Panoptikum. Er
betrachtete seine krummen und mageren Beine, die Ansätze eines Schmerbauchs,
die dünnen Arme und zuckte mit den Schultern. Armselig, dachte er. Nicht der
Rede wert. Darum ging es nicht. Er setzte sich an den Rand der Lichtung, der
Stadt und dem nickelartig glänzenden Meer gegenüber, im Türkensitz hockte er da,
die Füße unter die Knie gezogen, den Rücken an den Felsen gelehnt. »Unmöglich,
daß es nur darum ging« , sagte er halblaut.
    Er blickte
um sich, erschrak. Es war ihm, als hätte er geschrien; Meer und Himmel warfen
seine Stimme dröhnend zurück; das ist nur der Reflex der Stille, tröstete er
sich. Ohne Zweifel war er hier oben allein; so allein wie noch nie in seinem
Leben, und doch wollte ihm scheinen, daß er irgendwann einmal so alleine
gewesen war, so einsam, auf der leeren Erde, zwischen Meer und Himmel; die
Situation war bekannt, er mußte nur angestrengt nachdenken, es würde ihm schon
einfallen.
    Wieder
dieser Taumel, wie am Nachmittag, als die Frau sagte: »zwoundvierzig« – und
die Stufen hinaufging, und er wußte, was nun folgte, jeden Ton hörte er im voraus,
jede Bewegung sah er, auch die Beleuchtung des Zimmers, als wäre es bereits Erinnerung,
und zugleich Handlung, Gegenwart. Dieser Felsen, diese Bäume, die zwei hier am
Rand und in der Mitte, und der größere, an den er seine Kleider gehängt hatte
... und weit unten die Stadt. Er meinte die Werkstatt des Denkens zu sehen,
ihre Struktur, und zwar nicht das Gehirn, das er nur von medizinischen
Darstellungen kannte und das ihn mit seinen Windungen und seiner breiigen Masse
wie ein chaotisches Geflecht anmutete (woraus besteht das Gehirn? dachte er
beiläufig, gereizt und versuchte, sich an den Geschmack der Kalbs- und
Lammhirne zu erinnern, die er in seinem Leben gegessen hatte, nicht aus
Fleisch, ein weicheres Material, so wie Grieß ... nicht einmal das wissen
wir), sondern diese andere Struktur, dieses von den praktischen Zielen des
Verstandes unabhängige Kraftwerk, das von einer unbekannten Energie
durchdrungen war, die Worte waren dann nur noch Produkte dieser Kraft, ihre
unbeholfenen Vermittler.
    Er fühlte
sich, als würde er an der Reling eines Schiffes lehnen, im Begriff, eine
Weltreise anzutreten, und endlich wird er erfahren, wie die Welt ist – er sah
aufs Meer, und ihm schwindelte. Eine sonderbare Zufriedenheit durchströmte
ihn; er konnte sprechen, endlich war er allein. Mit ihm, unter vier Augen, in
dem schalldämpfend ausgepolsterten intimen Raum, wo sie niemand hörte, so
allein in diesem kleinen, trauten Universum. Er dachte an die Vorbereitungen zu
diesem Gespräch, an die über vierzig Jahre, in denen er die Worte gesammelt hatte,
an die dunklen Wege, die schmerzvollen Anstrengungen, bis er hierhergelangt
war. So war er denn auch ein wenig müde und räkelte sich. »Weißt Du, es war
kein Vergnügen« , sagte er freundlich, vertraulich. »Von der ersten
Minute an habe ich mich nicht wohl gefühlt ... Es war, als hätte mich eine
Erinnerung gequält.« Jetzt sprach er bereits lauter, wie jemand, der die
Tür abgesperrt hat und nicht fürchten muß, abgehört zu werden. »Es stimmt
auch nicht, daß die großen Schmerzen die unerträglichen sind ... Was man nicht
aushalten kann, sind die kleinen, es sind nicht einmal Schmerzen, einzeln sind
sie gar nicht zu spüren, nur das Ganze

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