Sandra und die Stimme der Fremden
Tätowierungen auf Unterarmen und Handrücken gar nicht zu seinem sanften Äußeren zu passen schienen.
Doch Michael war früher einmal ein gefährlicher Schläger gewesen. Er hatte einer Rockerbande angehört, die sich „The Wings“ nannte. Als bei einem Kampf mit der rivalisierenden „Angel-Bande“ ein junges Mädchen tödlich verletzt wurde, waren Michael und einige andere Bandenmitglieder verhaftet worden. Die „Wings“ lösten sich auf. Michael erhielt eine Jugendstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Sein Bewährungshelfer verhalf ihm zu der Stelle im Städtischen Tierheim, wo er seit zwei Jahren arbeitete.
„Was sagt ihr dazu?“ fragte Michael und deutete auf den Pudel. „Ein Vertreter hat ihn auf einem Autobahnrastplatz gefunden und zur Polizei gebracht. Entweder ist er aus einem fahrenden Auto geworfen oder irgendwo auf der Autobahn ausgesetzt worden und in ein Auto gelaufen. Er blutete aus mehreren Wunden. Die Polizei hat ihn bei uns im Tierheim abgeliefert. Sauerei, nicht?“
Sandra nickte. „Kommt er durch?“ fragte sie.
Michael hob die Schultern. „Der Doktor wollte ihn einschläfern. Aber ich fand’s schade um den Prachtkerl. Also habe ich mit Frau Arnold telefoniert und gefragt, ob ich ihn zu ihr rausbringen könne. Wir sind total überbelegt und können kein Tier mehr aufnehmen. Unsere Mitglieder auch nicht, obwohl wir viele neue angeworben haben. Aber die sind eingedeckt mit den Hunden und Katzen, die in den Sommerferien ausgesetzt worden sind.“
„Schade, daß meine Mutter berufstätig ist. Vielleicht hätte ich ihn zu uns nehmen können. Aber er braucht wohl ständige Pflege, nicht?“ überlegte Sandra.
„Bis er wieder auf dem Damm ist, auf jeden Fall“, bestätigte Michael. „Du würdest auch kaum mit ihm fertig werden. Er ist mißtrauisch, verängstigt und bissig. Wenn er Sie nur nicht angreift, Frau Arnold. Seien Sie vorsichtig mit ihm“, warnte er.
„Ich komme schon mit ihm zurecht“, brummte die Katzen-Marie.
„Wenn er überlebt, nennen wir ihn Plus“, sagte Sandra.
„Plus...?“ fragten Joschi und Michael verwundert.
„Jetzt lebt er im Minus. Seine Familie hat ihn ausgesetzt. Schwerverwundet wie er ist, hat er nur eine geringe Überlebenschance, ganz abgesehen davon, daß der Tierarzt ihn einschläfern will. Wenn er es trotzdem schafft, ist das ein Plus für ihn. Eine Wiedergeburt. Ich glaube, er wird den Namen mögen. Auf jeden Fall besteht so keine Gefahr, daß wir bei der Namensgebung ungewollt seinen richtigen Namen wählen, der ihn daran erinnert, wer er war und was er durchmachen mußte“, fügte Sandra trotzig hinzu.
Der Pudel jaulte leise klagend im Schlaf.
„Was steht ihr gaffend um ihn herum? Ihr nehmt ihm ja die Luft zum Atmen!“ polterte die Katzen-Marie.
„Bin schon weg!“ Michael hob abwehrend die Hände. „Die Ställe sind fertig. Das Verbandszeug und die Medikamente für…“ Michael grinste, „für Plus liegen auf dem Küchentisch. Ich schaue morgen nach Dienstschluß wieder herein.“
Michael winkte ihnen zum Abschied zu und ging.
„Und ihr? Habt ihr keine Schularbeiten zu machen?“ fuhr Frau Arnold Sandra und Joschi an.
„Wir bleiben noch“, erwiderte Sandra unbeeindruckt. „Wir sind nämlich wegen der Lieferungen hier. Die Sachen müssen zurück, falls Sie keinen Arger haben wollen.“
Die Katzen-Marie gab keinen Kommentar dazu.
„Sperr hinter Michael ab“, wies sie Joschi an.
„Nein, die Tür muß offenbleiben. Herr Seibold kommt noch“, sagte Sandra.
„Was will der denn hier?“
„Dasselbe wie wir. Wo haben Sie die Sachen hingetan, Frau Arnold?“ fragte Sandra.
„Die liegen im Schlafzimmer. Aber da könnt ihr jetzt nicht rein. Plus soll dort liegen. Da hat er Ruhe und hört die Hunde von draußen nicht“, polterte die Katzen-Marie.
Sandra hörte beglückt, daß die Alte ihren Namensvorschlag akzeptierte. „Keine Sorge! Wir holen die Sachen und machen sie drüben bei uns versandfertig“, erwiderte sie.
„Wozu denn? Sollen die Firmen sie doch abholen. Ich habe sie schließlich nicht bestellt“, protestierte Frau Arnold.
„Aber dazu müßten Sie den Firmen schreiben und ihnen das erklären. Da ist es doch einfacher, wir schicken die Sachen gleich mit, nicht? Herr Seibold setzt Ihnen das noch auseinander“, sagte Sandra geduldig.
Sie gingen in das Schlafzimmer mit den alten eichenen Doppelbetten, das seit Herrn Arnolds Tod unbewohnt blieb. Die Katzen-Marie benutzte lediglich den
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