Sanft kommt der Tod
Sex mit Mr Williams gehabt. Das hatte sie an dem Abend zugegeben, bevor die Polizei gekommen war. Rayleen hatte das Talent, all die Dinge zu hören, von denen die Erwachsenen nicht wollten, dass ein Kind sie mitbekam. Ihre Mutter und ihr Vater hatten stundenlang geredet, ihre Mutter hatte fürchterlich geheult. Einfach widerlich.
Und ihr Vater hatte ihr verziehen. Es war ein Fehler gewesen, hatte er gesagt. Aber jetzt fingen sie noch mal von vorne an.
Was genauso widerlich wie die blöde Heulerei gewesen war - und wie die Geräusche, die danach aus ihrem Schlafzimmer gekommen waren, als sie Sex gehabt hatten.
Falls jemand sie so belügen würde, wie es ihre Mom bei ihrem Dad getan hatte, würde sie ihn dafür bezahlen lassen. Zahlen, zahlen, zahlen.
Genau das tat sie jetzt, überlegte sie, während sie nach dem großen Becher griff und ihn nach oben trug. Sie würde Mami dafür bestrafen, dass sie unartig gewesen war. Dann kehrte endlich wieder Ordnung in ihr Leben ein.
Dann gäbe es nur noch sie und Daddy. Dann hätte er niemanden mehr lieb als sie allein.
Jetzt müsste sie ihr Tagebuch in den Recycler werfen, und das machte sie wütend. Daran war allein diese gemeine, neugierige Lieutenant Dallas schuld. Aber eines Tages fände sie ganz sicher einen Weg, um auch sie dafür zahlen zu lassen, dass sie derart rücksichtslos gewesen war.
Erst mal aber würde sie ihr Tagebuch am besten los.
Daddy würde ihr sofort ein nagelneues kaufen, wenn sie darum bat.
»Rayleen.« Allika trat durch die Tür des Schlafzimmers und sah sie fragend an. »Was machst du da?«
»Ich finde, du solltest dich ein bisschen ausruhen, Mami. Sieh nur, ich habe dir einen Tee gemacht. Ginseng, weil du den am liebsten magst. Ich werde mich um dich kümmern.«
Allika blickte auf die Tasse, auf das Bett und fühlte sich entsetzlich schwach. »Rayleen.«
»Du bist müde und hast Kopfweh.« Rayleen schlug die Bettdecke zurück, strich das Laken glatt und schüttelte das Kissen aus. »Ich werde dafür sorgen, dass es dir gleich wieder besser geht. Ich werde mich ein bisschen zu dir setzen, während du dich ausruhst. Wir Mädchen müssen uns schließlich umeinander kümmern, oder nicht?«
Sie sah ihre Mutter mit einem strahlenden Lächeln an.
Vielleicht war es so am besten, sagte sich Allika, während sie wie eine Schlafwandlerin durch das Zimmer lief. Vielleicht war es die einzige Möglichkeit.
Sie legte sich ins Bett, Rayleen deckte sie zu und hielt ihr den Becher hin.
»Ich liebe dich«, sagte sie zu ihrem Kind.
»Und ich liebe dich, Mami. Aber jetzt trink deinen Tee, dann wird alles gut.«
Allika sah ihrer Tochter ins Gesicht und trank.
20
Whitney hörte zu und versuchte, das Gehörte zu verdauen. Seine Hände, die bisher vollkommen ruhig vor ihm gelegen hatten, trommelten nervös auf der Kante seines Schreibtisches herum.
»Die Mutter verdächtigt also die Tochter, den Sturz des Jungen verursacht zu haben.«
»Die Mutter weiß, dass ihre Tochter den Sturz verursacht hat«, korrigierte Eve. »Vielleicht hat sie sich im Verlauf der Jahre eingeredet oder versucht sich einzureden, dass es tatsächlich ein Unfall war. Hat versucht, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen, sie wird aber bis heute regelmäßig von Depressionen oder Angstzuständen geplagt. Weil sie in ihrem tiefsten Inneren dasselbe weiß wie ich. Nämlich, dass es kein Unfall war.«
»Es gibt keinen Zeugen für den Sturz.« Whitney hatte ein steinernes Gesicht und sah Eve reglos aus seinen dunklen Augen an.
»Dr. Mira, ist es Ihrer Meinung nach bei dem gegebenen Szenario normal, dass ein kleines Mädchen über den Leichnam seines kleinen Bruders steigt, um mit einem Puppenhaus zu spielen, während seine Eltern vollkommen hysterisch sind?«
»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht stand sie unter Schock oder hat einfach geleugnet, was geschehen war.«
»Sie hatte die Pantoffeln an. Pantoffeln, die sie unten holen musste, bevor sie ihre Eltern wecken ging.«
»Ja.«
»Dem Bericht des damaligen Ermittlers zufolge starb der Kleine kurz nach vier am Morgen des fünfundzwanzigsten Dezember«, fuhr Eve fort. »Beide Eltern haben ausgesagt, sie hätten bis gegen halb drei die Strümpfe der Kinder gefüllt und Geschenke unter den Baum gelegt. Danach hätten sie noch ein Glas Wein getrunken und noch einmal nach beiden Kindern gesehen, bis sie schließlich gegen drei zu Bett gegangen sind. Rayleen hat sie gegen fünf geweckt.«
Einen Moment lang dachte Mira an all die
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