Sanft will ich dich töten: Thriller (German Edition)
nach, während er durch das offene Tor davonfuhr. Mit ihm hatte auch das warme Gefühl der Sicherheit sie verlassen, das sie in seiner Gegenwart empfunden hatte. Sie war allein mit Harrison und der nackten Tatsache, dass er zunehmend lästig wurde. Gewiss war er besorgt um sie, aber trotzdem lästig. Sie drückte nicht auf die Taste für die elektronische Verriegelung des Tors, die, wie Wes versichert hatte, wieder funktionierte. Sie würde das Tor schließen, wenn Harrison gegangen war.
Er wartete in der Küche auf sie, mit der Hüfte an den Tresen gelehnt, ihr schnurloses Telefon in der Hand.
»Ich habe Jake angerufen«, sagte er mit einem Lächeln, das verriet, wie stolz er auf sich war. »Mission erfüllt.«
»Was soll das heißen?«
»Er übernimmt den Job.«
Sie war wie vor den Kopf geschlagen. »Einfach so? Ohne mich zu kennen oder sich auf dem Grundstück umgesehen zu haben?« Sie wies ins Hausinnere. An der Sache schien etwas faul zu sein. »Habt ihr über die Bezahlung gesprochen? Die Arbeitszeiten? Himmel, Harrison, hör auf, dich derart einzumischen, sofort! Du kannst nicht über mein Leben bestimmen.« Sie ging auf ihn zu, sah ihm geradewegs ins Gesicht, hitzige Wut im Blick.
»Ich will dir nur helfen.«
»Du nimmst mir die Luft zum Atmen.«
»Jake wird dir gefallen.« Der Mann war unmöglich. Er sah sie an, als verstünde er kein Wort von dem, was sie sagte.
Sie straffte die Schultern. »Darum geht es gar nicht, okay? Du brauchst mich nicht zu beschützen.«
»Weil du das allein so großartig hinkriegst?«, fragte er, und in seine Augen trat ein hässliches Glitzern.
»Weil ich es nicht will! So einfach ist das. Vielleicht solltest du jetzt lieber gehen. Wenn du glaubst, irgendwelche Ansprüche auf mich zu haben, dann irrst du dich.«
Er starrte sie an, als habe sie den Verstand verloren. »Moment mal. Du redest Unsinn. Du brauchst Hilfe.«
»Aber ich brauche mich nicht ersticken zu lassen! Ich bin eine erwachsene Frau, verdammt noch mal. Also lass mich in Ruhe. Und, bitte, geh jetzt.«
Sekundelang blieb er noch in der Küche stehen, bewegungslos, mit offenem Mund, dann schien er endlich zu begreifen und atmete tief durch. »Wenn du es so willst.« Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und ging zur Hintertür. »Tut mir Leid, dass ich mich aufgedrängt habe, Jenna«, sagte er, eine Hand bereits auf dem Türgriff, und sah sie über die Schulter an. »So bin ich eben. Du weißt ja, habe jahrelang das Kommando geführt.«
Sie ließ sich nicht erweichen. Sah ihn nur böse an.
»Hör zu, ich schau mir die Alarmanlage noch einmal an, nur damit ich beruhigt sein kann, und dann belästige ich dich nicht mehr. Wenn du es dir anders überlegst, ruf mich an.«
Das würde sie nicht tun. Dessen war sie sicher.
Er wahrscheinlich auch.
Sein Blut pulsierte. Rauschte durch die Adern. Schneeflocken schmolzen auf seiner Haut, kalte Rinnsale liefen über sein Gesicht und seine bloße Haut. Er trug nur Handschuhe, sonst kein einziges Kleidungsstück. Seine Muskeln bebten, als er sich an der Stange hochzog, die er für Klimmzüge benutzte: eine kalte Metallstange, die sich tief in die raue Rinde gigantischer Fichten bohrte.
Hochziehen … langsam … herunterlassen … noch langsamer. Mit starrem Körper. Die Füße geschlossen. Rauf. Runter. Rauf. Runter. Hundert Mal.
Das Training gehörte zu seinem festen Tagesablauf. Tag für Tag. Ohne Rücksicht auf das Wetter.
Weder Schnee noch Regen oder Hitze oder dunkle Nacht … Ja, so war es, so regelmäßig wie die Post der USA.
Zuverlässig.
Aber tödlich.
Unbesiegbar im Winter.
Stark eben durch die Kälte, die er so verabscheute. Im Geiste zählte er seine Klimmzüge mit, spürte den Schmerz in den Muskeln, empfand erneut das Bedürfnis zu töten, und sein Puls beschleunigte sich. Er biss die Zähne zusammen, beendete sein Training, ließ sich geschmeidig zu Boden fallen und sank mit den nackten Füßen tief in den Schnee.
Der Schweißglanz seiner Haut vermischte sich mit den eisigen Schneeflocken. Heiß und kalt. Eiskalter Wind streifte seine Nacktheit. Sein Fleisch dampfte.
Die Schärfe der Nacht ging ihm unter Haut.
Er schloss sekundenlang die Augen.
Stellte sich die Jagd vor.
Es war Zeit, zu töten.
Und er wusste, wo er sie finden würde …
27. Kapitel
W enn der Prophet nicht zum Berg kam, dann musste der verdammte Berg eben zum Propheten kommen.
Roxie Olmstead hatte es satt, vom Sheriffbüro von Lewis County immer nur mit
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