Sankya
ertragen.
Ich gehe zu Werotschka. Muss irgendwohin gehen, es ist kalt. Oder ist sie in der Uni? Sie studierte ja, oder irgendwas in der Art. Oder war sie schon überall wegen ihrer Freundschaft mit diesen ganz und gar nicht guten »Sojusniki« raugeschmissen worden?
Unverständlich, wozu Sascha in diesem Zustand – ganz durchfroren, mit nassen Füssen – bis zu ihrem Haus lief – er hatte nicht einmal das Geld für eine Fahrt. Niemand war zu Hause. Die Klingel klang abscheulich, dann Stille.
Er ging wieder, hinterließ im Eingang nasse Spuren. Langsam stieg er die Eingangstreppe hinunter, wie ein Alter. Er strich mit der Hand übers Geländer.
Vielleicht sollte er zu Posik gehen? Posik, Lieber … Nega hatte ihm das Geld abgenommen … Man musste ihm sagen, dass der Richter, der seinen Bruder eingebuchtet hatte, umgebracht wurde.
Aber war das wirklich nötig?
Und wie, wie sollte denn Posik, der gute Posik, dann reagieren? Soll er sich etwa freuen, in Lachen ausbrechen? Soll er sagen: »Sie haben ihn umgebracht … wie geil! Das Hirn rausgeblasen! Zum Totlachen!«
Das wird er natürlich nicht sagen. Noch dazu, wo er selbst alles schon weiß. Und es ist auch nicht bekannt, was ihm wegen der Sache wirklich durch den Kopf geht.
Besletow bat anzurufen. Was für eine Nummer anrufen? Er hatte ja offenbar ein Handy. Das Handy anrufen? Und von wo? Noch einmal nach Hause zurückgehen?
Sascha kam zur Mutter in die Arbeit, in ihre jämmerliche Sanitätsabteilung, wo sie Krankenschwester war. Er ging am Empfang vorbei in den zweiten Stock, zu ihrem kleinen Kabinett, in dem es herb nach Medikamenten roch.
Kaum war er eingetreten, hob Mama rasch ihren Blick, und blickte sofort über Saschas Schulter – als müsste dort jemand stehen. Jener, der ihn hergebracht hatte – einer mit strengem Blick, ein erwachsener, strammer Mensch. Bisweilen kam es Sascha so vor, als ob Mama es regelrecht wollte, dass er zur Vernunft gebracht würde. Sie erinnerte oft an den Vater, sprach aber natürlich nicht aus, was der Vater mit Sascha machen würde, wäre er noch da. »Wenn der Vater noch am Leben wäre …« würde sie sagen und Sascha traurig ansehen.
Sascha würde nichts erwidern, würde wütend abziehen.
Der Vater hätte nichts getan. Er war müde gewesen und starb. Er hätte auch weiter leben können, müde. Er hatte es aber vorgezogen, zu sterben.
»Was quälst du mich denn so, Söhnchen?«, begann die Mutter sofort mit hoher, tränenunterlegter Stimme.
»Aus, aus, es genügt, hören wir bitte damit auf …«, verrenkte sich Sascha und schaute Mama an, die müde aussah, wie jede russische Frau, die ein halbes Jahrhundert hinter sich hat.
»Natürlich, als Mutter darf man ja gar nichts sagen …«
»Mama, hör doch auf. Gibst du mir Tee?«
»Wo warst du?«, fragte die Mutter und setzte den rostigen Wasserkessel auf.
»Ich bin nach Moskau gefahren.«
»Was treibst du dort, in Moskau? Als würde dort jemand auf dich warten.«
»Nur du wartest auf mich.« Sascha lächelte und sagte das im Scherz, weil er wusste, dass es die Mutter gerne hörte und Freude daran hatte, dass er sich wenigstens an ihre Liebe erinnerte.
»Was treibt dich so in der Welt herum?«
»Es treibt mich halt etwas …«
»Du bist nicht sehr geduldig, Sascha.«
»Das Erdulden gefällt mir halt nicht.«
»Weißt du, ich habe das schon bemerkt, als du noch ganz klein warst. Du hast in der Nacht geweint, und wenn ich es mir auch sehr gewünscht habe, dass du einschläfst, bist du partout nicht eingeschlafen. Du hast die Augen weit aufgerissen. Sobald ich dann aber beschloss, so lange wie nötig sitzen zu bleiben, bist du gleich ganz unauffällig eingeschlafen.« Mama stellte den Tee vor ihm hin. »Und hast tief geschlafen.«
»Warum sagst du mir das?«, fragte Sascha. Er rührte abwesend den Zucker um.
»Hetz nicht so, Sohn, das möchte ich dir sagen.«
»Ich hetze nicht.«
»Wenn du mit etwas Recht hast, wird alles so werden, wie du willst. Überstürz nichts.«
»Gut Mama. Wie steht es bei dir?«
»Was soll außer dir sein …«
Auf diese Weise unterhielten sie sich weiter.
Er rief Besletow an. »Sasch, ruf in einer Minute an, wenn das geht.«
»Es geht«, dachte er entnervt. Irgendwie wollte er aber nicht noch einmal anrufen. Was aber tun: Nach Hause gehen? Dort wirst du ganz zum Tier … Er rief nochmal an.
»Wen rufst du an?«, fragte die Mutter, als er wählte.
»Besletow …«
»Vielleicht bringt er dich irgendwo unter?«,
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