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Sankya

Sankya

Titel: Sankya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zakhar Prilepin
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geschlossenen Augen da und dachte nach – wie jeder, der sich ständig selbst unterbricht, von einem zum anderen springt, völlig unklar im Kopf.
    »Negativ hat keinen Vater. Seine Mutter muss Posik alleine durchbringen …
    Posik hat aber selbst Köpfchen.
    Und überhaupt, was begräbst du Negativ schon? Vielleicht fährst du selbst, an seiner Stelle …
    Du hast auch keinen Vater. Und du hast auch keinen Posik. Kein Schwanz ist da …
    … Vaterlose auf der Suche danach, wem sie als Söhne von Nutzen sein könnten. Wir, die Vaterlosen, auf der Suche danach, wo wir als Söhne von Nutzen sein könnten. …
    Du lügst ja. Es gibt auch ›Sojusniki‹ mit Vätern. Aber die brauchen keine Väter … Denn was sollen das für Väter sein … Das sind keine Väter. Deshalb lüge ich auch nicht.
    Und die Mütter?
    Was soll mit den Müttern sein? Sie wissen nur, dass sie die Söhne zu Hause brauchen …«
    »Wenn du mich liebst, dann stör mich nicht …«, hatte er der Mutter einmal gesagt. Aber sie störte ihn. Und er hörte auf, ihr etwas zu sagen, fast alles verbarg er vor ihr. Aber sie erriet es, natürlich.
    »Zu Mama bin ich nicht mehr gefahren, Scheiße. Ich hätte ja trotzdem fahren müssen. Was macht sie denn alleine … ohne Vater.
    Und Jana, hat die einen Vater?
    Was geht dich das an – zum Teufel noch mal?
    Nein, es ist trotzdem interessant. Sie kommt ja irgendwo aus der Provinz. Sie kam eigentlich um zu studieren. Und jetzt da … Denn sie können sie auch einsperren. Warum hat sie keine Angst? Sie ist doch so … zart. Woher kommt das bei ihr überhaupt, diese Leidenschaft, in Formation zu marschieren, in der Kolonne vorne weg, diese unsere Fahnen, diese unsere Wut …«
    Unsere Wut regt Besletow so sehr auf.
    »Ihr habt Russland eurer Enttäuschung geopfert, Aleksej …«
    Sascha begann in Gedanken mit Besletow zu sprechen, er machte das oft, wenn er nicht einschlafen konnte, dann begann er mit jemandem zu streiten. Klar, nicht leidenschaftlich. Er war sogar im Traum zu faul zum Streiten.
    »Ihr habt ja mein Land euren Enttäuschungen zum Opfer gebracht …
    Für euch hat Russland keine ethnische Bedeutung mehr, vom Sinn des Raumes gar nicht zu reden … Ihr seid verrückt geworden, seid in eurer ›spirituellen Erfahrung‹ versumpft – und redet nur noch davon. Der Ursprung eures Verhaltens ist trotz allem nicht eure Suche, euer vages Verständnis vom Guten, das ihr so leicht verratet, es geht kaum um ein anderes Verständnis der Existenz – am Anfang steht bei euch die Enttäuschung, die euch erst kürzlich eingeholt und niedergeworfen hat.
    Und jetzt verlangt ihr von einem ganzen Volk, es solle dafür sühnen, was es gemacht hat, als könnte dadurch eure mickrige Verzweiflung darüber, was ihr alles nicht getan habt, wettgemacht werden.
    Es mag ja sein, dass der russische Mensch überhaupt nicht zur Buße neigt …
    … Und es ist gut, dass er nicht dazu neigt, denn es würde ihn vielleicht völlig zerbrechen.
    … Aber sind zumindest wir bereit, wenigstens die eigene, kleinste Lüge anzuerkennen?«
    »Und du?«
    »Und ich?«
    Der Zug dröhnte sanft, schaukelte hin und her.
    Sascha schlief irgendwann gegen Morgen ein, als die Passagiere mit ihren verschwollenen Gesichtern anfingen, zur Toilette und zurück zu laufen, und gegen Saschas Beine stießen. Er versuchte, die Knie an den Bauch zu ziehen, aber er hatte nicht ausreichend Platz, um sich richtig einzurollen.
    Negativ rüttelte ihn an der Schulter.
    »Steh auf«, sagte er.
    Im Bunker ging es immer laut und fröhlich zu. Er glich einem Internat für schwer erziehbare Kinder, dem Atelier eines verrückten Künstlers und dem Kriegshauptquartier von Barbaren, die entschlossen waren, egal wohin in den Krieg zu ziehen.
    Hier gab es Mädchen, in deren Gesichtern sich auf abenteuerliche Weise Ekel vor der sie umgebenden Welt und ein gesteigertes Gefühl für genau dieselbe Welt vermischte. Sonderbarerweise geschah dies auf höchst organische Weise.
    Die Mädchen kamen Sascha entweder sehr schön oder ganz und gar hässlich vor.
    Es gab viele junge Männer, die auf alle nur erdenkliche Art ihre Frisuren gestalteten – entweder waren sie absolut kahl geschoren, oder sie ließen ein Büschel oder einen Irokesenkamm stehen, manche hatten auch sonderbare Koteletten. Außerdem traf man da auf Jugendliche mit ganz unerwartet makellosen Frisuren, in schicken Jacketts, und ebenso simple Arbeiterjungs mit einfachen Gesichtern.
    Sie hatten sich alle ziemlich

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