Sankya
Fingernägel geworden waren, mit einem schmutzigen Rand – er hatte nichts zum Kürzen gehabt, nur einmal hatte er heimlich Ljowas Schere benutzt; ihn darum zu bitten, wäre irgendwie unanständig gewesen, vielleicht hätte er sich geekelt …
Er presste die Hand zusammen, rauchte durch die Faust, wie ein Dieb.
»Haben sie dich kuriert?«, fragte Jana. »Tut dir etwas weh?
Sascha glaubte abermals an ihrer Stimme zu erkennen, dass es ihr egal war, ob er behandelt wurde oder nicht, ob ihm etwas weh tat oder nicht.
»Du weißt nicht, warum sie mich verhaftet haben?«, fragte er plötzlich. »Kann es nicht sein, dass du mich hast auffliegen lassen? Dass all das wegen dir so kam?«
Jana schaute ihn aufmerksam, ja, verblüfft an.
»Dummkopf«, sagte sie. Sie stand auf und ging.
Auch Sascha stand auf, und ging, ohne auf Matwej zu warten, zur Metro. Am Bahnhof kaufte er eine Fahrkarte für die Elektritschka – für den Zug reichte das Geld nicht – und bewegte sich Richtung nach Hause.
Die Elektritschka rüttelte, sie polterte, wie klappriges Geschirr. Ein ungesunder Luftzug strich durch den Waggon.
Er fuhr mit versteinertem Gesicht.
Unmerklich nickte er unter dem Scheppern der Räder ein, er mümmelte sich verfroren in die Jacke.
Während er träumte, schlief seine Hand ein, die Erinnerung kam hoch, dass er wieder Handschellen trug und es jetzt sehr schmerzen würde – vor Schreck schrie er auf und erwachte.
Der Nachbar gegenüber schaute verängstigt.
Sascha schluckte seinen Speichel runter. Voller Abscheu schloss er die Augen vor allem, was sich in seiner Umgebung befand – hinter dem Fenster, in der Vergangenheit, in der Zukunft.
Er erinnerte sich noch, wie er von den Rädern geträumt hatte, die unten klackerten, unter den Füßen. Und diese Räder glichen einem Fleischwolf, der zerfetzte und zermalmte, es knirschte und zerbröckelte. Im Traum flogen unter den Rädern Brocken schwarzer, feuchter Erde davon, Schwellen, noch irgendetwas Weißes, Hartes …
Kapitel 9
In den ersten Dezembertagen, als schwerer, harter und stechender Graupelschnee fiel, traf aus Riga die Nachricht ein – dass die Jungs, die »Sojusniki«, die an der Aktion teilgenommen hatten, jeweils fünfzehn Jahre bekommen hatten. Es wurde ihnen ein abenteuerlicher Paragraph angehängt, den es eigentlich gar nicht gab: Sie waren auf den Turm gestiegen und hatten sich dort verbarrikadiert – sie hatten niemanden angegriffen. Die Granate, mit der die »Sojusniki« der Wachmannschaft gedroht hatten, war eine Attrappe gewesen.
In den Nachrichten wurde das widerwärtige Gesicht des Richters gezeigt – graue Mähne, schmale Lippen, böse Augen. Luakrase … Luarkese … Lukresee … Sascha hatte seinen Namen sofort wieder vergessen. Über den Richter hieß es, auf sein Konto seien schon siebzehn Veteranen der Roten Armee gegangen, die in den letzten zwei Jahren in lettische Gefängnisse gesperrt worden waren. Einige von ihnen starben in Haft – einer aufgrund seines Alters, einem zweiten wurde nach dem Hungerstreik der Magen nicht leergepumpt … Ein weiterer Alter tauchte kurz in einer Fernsehreportage auf – es wurden Archivbilder gezeigt, wie er, an Parkinson leidend, mit zitternden Händen auf einem Stuhl in den Käfig getragen wurde. Währenddessen blättert der Richter in irgendetwas herum, in den Dokumenten der Anklage …
»Den sollte man umbringen«, sagte Sascha müde.
»Müsste man«, stimmte Rogow nachdenklich zu.
Sie waren bei Matwej reingeplatzt.
Sie saßen am Tisch, tranken Tee, Matwej füllt ein wenig heißes Wasser nach, schaute die Jungs an, zwinkerte. Als Sascha das Wort »umbringen« aussprach, verharrte Matwejs Blick auf ihm, als würde er abwägen, wie ernst das gemeint war.
Sascha erwischte den Blick, verstand worum es ging, und schaute Matwej ruhig in die Augen.
»Ja, Matwej«, sagte er.
Matwej nickte kurz und lenkte das Gespräch auf etwas anderes.
Als sie den Tee ausgetrunken hatten, rief er die Jungs auf die Straße hinaus, sein Handy ließ er in der Wohnung zurück. Auch Rogow ließ seines zurück. Sascha hingegen hatte seit jenem Ereignis kein Handy.
»Matwej, ich muss es wissen«, sagte Sascha als sie zum Eingang hinauskamen, »Was ist da geschehen? Wer ist daran schuld, dass sie mich verhaftet haben? Warum wurde das Handy angezapft?«
»Entschuldige Sascha, dass man es dir nicht gleich gesagt hat«, antwortete Matwej ruhig und drehte sich um – er ging drei Stufen voraus.
Auf der
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