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Sanssouci

Sanssouci

Titel: Sanssouci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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sich offenbar bis heute nicht davon erholt, er steht wie unter Schock …
    Alexej hielt inne. Der alte Baron hatte jene Fragetechnik an sich, die er in Rußland öfter an Betrunkenen auf der Straße erlebt hatte. Diese Leute wissen einfach deshalb über alles Bescheid, über die ganze Stadt, weil sie wahllos jeden zum Reden verführen wollen und sich auf alles einen Reim machen. Alexej verstummte.
    Jetzt redet er nichts mehr, sagte der Alte.
    Nein, entgegnete Alexej, machen Sie so bitte nicht weiter. Ich kenne Ihre Fragen. Und daß Sie, nachdem ich eben verstummte, sagen würden »Jetzt redet er nichts mehr«, das wußte ich ebenfalls vorher, weil ich das schon öfter erlebt habe. Dabei kommt bloß Geschwätz heraus. Ich bitte Sie, hören Sie damit auf. Es ist für niemanden gut.
    Er ist wahrhaft ein Prediger! Ein Prediger! rief der alte Baron und streckte Alexej seine Hand hin. Alexej lächelte.
    Der Baron: Mai sei von einer dieser Taranteln gestochen worden. Die kenne er genau. Er, der Pfarrer, solle sich glücklich preisen, daß er gar nicht erst in die Gefahr komme. Heike: Von wem redest du? Der Baron: Von dieser Frau rede ich, dieser Tarantel. Heike: Welche Frau? Er: Die Tarantel! Der Pfarrer hat doch selbst gesagt, wie sie ihn gequält hat. Die meine ich. Heike: Du scheinst die Frau ja gut zu kennen. Wer ist sie denn? Nenne mir doch mal ihren Namen! Der Alte (plötzlich schlecht gelaunt, als habe man ihn beleidigt): Du weißt schon, wen ich meine. Heike: Wen denn? Er, schweigend, dann nach einer Weile: So rede ich nicht weiter. Nein, nein! Laßt mich doch in Ruhe! Was wollt ihr denn immer von mir? Immer wollt ihr etwas von mir. Ich komme mir ja vor wie ein Mülleimer, in den ihr alles hineinwerft. Ich habe mit alldem doch nichts zu tun! Selbst der Pfarrer hier erzählt mir alles, dabei hat er doch sein Schweigegelübde, aber ich sehe doch, wie sich alles in ihm danach drängt, den Mund aufzumachen und zu plappern. Ich gehe jetzt, laßt mich ein für allemal in Ruhe.
    Tatsächlich stand der Baron schwerfällig auf und ging, augenscheinlich unglücklich darüber, daß keiner versuchte, ihn zurückzuhalten. Heike: Er hat Sie nur »Pfarrer« genannt, um Sie zu provozieren. Er weiß natürlich, daß Sie kein Pfarrer sind. Aber er kann es nicht ertragen, wenn er nicht reden darf. Er will immer reden, aber wenn jemand so schweigt wie Sie und ihm dann auch noch den Mund verbietet, das hält er nicht aus.
    Alexej sagte, das tue ihm leid, er habe dem Mann nicht den Mund verbieten wollen.
    Sie verließen den Bahnhof. Heike machte keine Anstalten, sich von dem russischen Mönch zu trennen. Sie fand Alexej hübsch, auch wenn ihr sein Bärtchen grotesk erschien, noch grotesker als seine Mönchskleidung. Alexej hatte ein schlankes Gesicht, seine Wangenknochen traten infolge seiner asketischen Lebensweise etwas hervor, sein Mund war fein, die Lippen schmal, und er bewegte diese Lippen auf sehr angenehme Weise. Seine Haltung war aufrecht, aber zugleich entspannt, und in seinen Augen lag etwas Unverstelltes, das gefiel Heike, ohne daß sie sich darüber Rechenschaft ablegte (sie betrachtete Alexej ganz unbewußt).
    Sie liefen eine halbe Stunde durch die Stadt, Heike zeigte ihm das Havelufer, das Grüne Gitter am Eingang zum Park, das Glockenspiel an der Stelle der ehemaligen Garnisonkirche … Sie spazierten durch kleine Straßen, gelangten erneut ans Ufer, dann kamen sie an einem Kindergarten vorbei, aus dem gerade Mütter ihre Kinder abholten. Einen Augenblick schien es Alexej, als erkenne er die Frau mit dem Kind namens Jesus wieder, aber die betreffende Frau verschwand gerade mit dem Kinderwagen hinter einer Hausecke. Er schüttelte den Kopf.
    Heike blieb stehen, beide betrachteten eine Weile den Kindergarten. Genauer gesagt handelte es sich um zwei Kindergärten, den städtischen und den direkt angrenzenden Waldorfkindergarten. Der Spielplatz des städtischen Kindergartens war bestückt mit allerlei bunten Rutschen und Schaukeln, der des Waldorfkindergartens wardavon durch einen Holzzaun abgetrennt und bestand ausschließlich aus hölzernen Spielgeräten. Alexej gefielen die Holzgeräte. Er mußte an seine Schule bei Kubain denken, dort hatten sie ähnliche Geräte gehabt.
    Dann verließen sie den Platz mit dem Kindergarten, liefen zurück zur südöstlichen Seite des Parks, kamen noch durch einige Straßen und trennten sich schließlich. Alexej war sich sicher, Heike im weiteren Verlauf des Tages erneut zu begegnen. Es war

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