Sanssouci
gegen zwei Uhr, und Alexej überlegte sich, was er nun tun sollte.
Bei Grigorij
Erst einmal ging Alexej zu Hornungs Haus. Alle Leute auf der Straße schauten ihm nach. Hornungs Haus war verschlossen. Mai war nicht da.
Alexej machte sich klar, daß nicht so einfach auszuführen sein würde, was er in Potsdam wollte. Er wollte etwas über die beiden Jugendlichen in Erfahrung bringen, für die er sich seit der Beerdigung verantwortlich fühlte, ohne daß er sich Rechenschaft über den Grund ablegen konnte. Aber er hatte weder einen Plan noch eine Aussicht und war sich bewußt, daß er sich wahrscheinlich blamieren würde (er wußte nur noch nicht, in welcher Hinsicht). Allerdings war ihm das egal.
Alexej rief daraufhin einen Bekannten an, einen Bulgaren, der in Potsdam wohnte und mit dem er vor drei Jahren gemeinsam im Übergangswohnlager gelebt hatte. Alexejs Familie war damals drei Wochen in Winsen ander Luhe einquartiert gewesen, ebenso wie der Bulgare, der Grigorij hieß. Alexej hatte ihn seit einem Jahr nicht mehr gesprochen. Grigorij war erfreut, von ihm zu hören, und lud Alexej zu sich nach Hause ein. Er wohnte am Rande eines Plattenbaugebiets. Alexej suchte ihn auf und fragte, ob er bei ihm übernachten könne. Sie tranken Tee, aber während des Gesprächs konnte sich Alexej nicht gut konzentrieren. Er dachte zuviel nach. Die Abwesenheit vom Kloster und von der dortigen Zeitlosigkeit (jeder Tag war dort immer ein und derselbe Tag) griff ihn an. Eine kleine Reise nach Moskau vor vier Wochen eingeschlossen, hatte er das Kloster nun schon zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit verlassen.
Die Begegnung mit Grigorij war freundlich, aber formell. Er hauste unglaublich beengt und hatte sich in Potsdam, wie Alexej sehr bald auffiel, nicht zu seinem Besseren verändert. Ihm stand lediglich ein Zimmer mit einem kleinen Kocher zur Verfügung. In solchen Zimmern, das wußte Alexej aus eigener Erfahrung, war es nur dann auszuhalten, wenn man jeden Tag peinlich genau auf Ordnung achtete. An der Wand hing ein kleines Madonnenbild aus Papier, davor hatte Grigorij ein winziges Tischchen mit einer Kerze gestellt. Es war keine Andachtskerze, wie man sie vor den Heiligenbildern entzündete, sondern eine Grableuchte. Möglicherweise hatte Grigorij nichts anderes auftreiben können und sie von einem Friedhof mitgenommen. Diese Ecke des Zimmers war einigermaßen sauber, aber ansonsten lagen überall Kleidung oder Essensreste herum.
Grigorij war orthodoxer Christ wie Alexej. In Winsenwaren sie noch gemeinsam auf der Suche nach Andachtskerzen unterwegs gewesen, mehrfach waren sie deshalb bis Lüneburg gefahren und hatten für die Zugfahrten ihr letztes Geld ausgegeben. Grigorij hatte sich ebenso wie Alexej an den kirchlichen Kalender gehalten und dem Priester assistiert. Beide, Alexej und er, hatten in Winsen allerdings wenig über religiöse Dinge gesprochen. Alexej befand sich damals in einer Phase, in der er seinem Glauben noch nicht traute. Er wußte, was seine russischen Freunde vor seiner Abreise nach Deutschland über ihn gesagt hatten. Er komme mit seiner Rolle als Rußlanddeutscher nicht zurecht, deshalb verrenne er sich in seinen Glauben wie in eine Ideologie. Konnte er das ausschließen? Er selbst war oft erstaunt, in welche Euphorie ihn die neue Lebensweise versetzen konnte, mit der er übrigens nicht von einem auf den nächsten Augenblick angefangen hatte. In Blagowestschensk waren zwei Dinge für ihn entscheidend gewesen, nämlich der nähere Anschluß an die Gemeinde, besonders an den Priester, dem Alexej ein halbes Jahr vor seiner Abreise zu assistieren begann, und vor allem der kirchliche Kalender, an den er sich damals schon hielt. Gerade aufgrund der oft eintretenden Euphorie mißtraute er sich aber. Als der Plan, aus Rußland zu emigrieren, Gestalt gewann, war ihm stets gegenwärtig, was seine Freunde sagten. Sie konnten nicht glauben, daß er, ein normaler, gewöhnlicher Studentenkollege von früher, der eine ordentliche Stelle als Lehrer hatte, sich plötzlich in so etwas verrannte. Einige hielten ihn sogar für feige, und hier und da wurde der Vorwurf laut, er halte sich (weil er sich aus der normalenGesellschaft herausnehme) für etwas »Besseres« oder »Besonderes«. Damals war jenes Thema schon ganz da: daß die Selbsterniedrigung von der Selbstüberhöhung kaum zu unterscheiden ist. Seltsamerweise begriff niemand diesen Gedanken. Die einen sahen in Alexej einen demütigen, die anderen einen anmaßenden
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