Sanssouci
Menschen. Daß beide Phänomene eng zusammenhingen, fiel keinem auf. Alexej beschäftigte das lange. Auch, ob er in seiner Askese eine große Willensleistung sehen sollte oder etwas, das ihm lediglich sehr leichtfiel, konnte er lange nicht entscheiden. Heute wußte er auf manches eine bessere Antwort. Er überlegte sich gar nicht mehr, ob sein vergleichsweise asketisches Leben nach dem Kalender und der Klosterregel für ihn »schwer« oder »leicht« war. Er wußte einfach, daß es richtig war, und insofern fiel es ihm »leicht«. Ebenso leicht, wie es ihm beispielsweise fiel, keinen Mord zu begehen (er benutzte das Beispiel mit dem Mord öfter, man konnte an ihm viel verdeutlichen; er benutzte es vor allem, um zu erläutern, daß das, was man als richtig erkennt, nie eine Mühe beinhalten kann). Aber in Winsen an der Luhe war Alexej noch nicht soweit gewesen. Damals war er täglich damit beschäftigt, zu prüfen, ob das, was er tat, tatsächlich Glaube oder nur eine Art private »Mode« sei. Deshalb hielt er sich an die kirchlichen Praktiken und sprach nicht über seinen Glauben, da ihn Einspruch von außen noch mehr verwirrt hätte. Übrigens fand er Grigorij schon damals ein bißchen seltsam. Aber er akzeptierte alle in der Gemeinde, wie er selbst akzeptiert werden wollte, nämlich einfach so, ohne Grund. Und in der Tat: es gab ja keinen spezifischen Grund, warumman zum Glauben kam, und es gab keine eindeutige Weise, wie man Glauben anderen vermitteln konnte, »wahren« Glauben, »echten« Glauben, »richtigen« Glauben. Er akzeptierte an Grigorij, daß er glaubte, ebenso wie er wünschte, daß man es bei ihm selbst akzeptiere. Zugleich sagte er sich: Ehrlich gesagt möchte ich auch gar nichts Näheres über Grigorijs Glauben wissen. Am Ende würden wir uns vielleicht streiten, das wäre nicht gut, und wenn wir im Gegenteil ein gemeinsames, großes Einverständnis erkennen würden, wäre es wahrscheinlich sogar um so schlimmer.
Kurzum, Grigorij verrichtete damals ebenso wie Alexej seinen Dienst und hielt sich an den Kalender, und über nichts anderes hätte Alexej ein Urteil gefällt.
Grigorij hielt sich jetzt offenbar nicht mehr an den Kalender. Sie saßen gemeinsam in seinem Zimmerchen, und Grigorij aß ein herumliegendes Wurststück, obgleich das heute nicht erlaubt war. Natürlich machte Alexej ihm das nicht zum Vorwurf, er vermerkte es lediglich, so wie man eine Tatsache notiert wie etwa die, daß es regnet oder die Sonne scheint oder man noch in den Stadtteil soundso zu gehen hat. Grigorij schien auch angetrunken zu sein. Er redete sehr begeistert von den Evangelien, insbesondere von Jesus, aber vielleicht tat er das nur wegen Alexej … vielleicht war er in seinem Glauben an einer ganz anderen Stelle als damals in Winsen angekommen und suchte jetzt bloß einen allgemeinen Anknüpfungspunkt, weil er glaubte, sich Alexej eigentlich nicht mehr mitteilen zu können, genau wie er umgekehrt vielleicht davon ausging, daß auch Alexej sich ihm nicht mehr mitteilenkonnte, weil er ebenfalls völlig woanders angekommen war.
Alexej betrachtete Grigorij immer nachdenklicher. Der Bulgare war bleich und aufgedunsen, auf seiner Wange zeigten sich ungesunde Flecken, die Barthaare wucherten ihm im ganzen Gesicht, von einem Ohr zum anderen. Der Bart war rot, aber zugleich seltsam fahl. In seinem Gesicht steckten zwei graugrüne Augen, die freundlich zu blicken versuchten. Aber in Wahrheit schauten sie ziellos umher. Alexej bemerkte, daß das, was Grigorij über Jesus sagte, befremdlich und leblos war. Grigorij stellte einzelne Handlungen Jesu aus der Bibel heraus und sprach davon, daß alles das wahr sei, daß das alles historische Tatsachen seien, aber die meisten es wahrscheinlich doch nicht glaubten, obgleich sie das Gegenteil behaupteten. Nach einer Weile zog Grigorij sogar einen Zettelkasten hervor, in dem er irgendwelche Hinweise gesammelt hatte, die belegen sollten, wo die Evangelien die Worte der Propheten jeweils einlösten. Zugleich erweckte Grigorij den Eindruck, als sei die Hauptaufgabe seines Glaubens, die historische Existenz Jesu als unbezweifelbar hinzustellen. Das schien für ihn ungeheuer wichtig zu sein. Alexej fühlte sich unwohl dabei. Grigorij redete wie ein Kranker. Und er hatte auch die Augen eines Kranken, unruhig, mit flatterndem Blick und eigentümlichem Glanz.
Alexej hörte sich Grigorijs Ausführungen geduldig an. Grigorij redete davon, wie »negativ« (so sein Ausdruck) Jesus auf viele
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