Sanssouci
Erzpriester: Das kann dir ganz egal sein. Wie sie reden, muß mit deinem Herzen nichts zu tun haben. Es ist vielleicht das einzige, was ihnen bleibt. Laß dich davon nicht quälen. Aber dafür ist deine Wunde vielleicht noch zu frisch, Alexej.
Alexej: Welche Wunde?
Er: Entschuldige, ich rede etwas blumig. Die Wunde, die du dir selbst geschlagen hast und aufgrund deren du plötzlich stärker wurdest im Glauben und diesen als dein Leben zu begreifen begannst. Denn als du, sagen wir, fünfzehn Jahre alt warst, hast du in alldem wahrscheinlich noch überhaupt kein Problem gesehen. Du hast ein ganz normales Leben geführt, wie sie es nennen. Ich übrigens auch.
Ja, ja, rief Alexej plötzlich erregt. Das ist ein Gedanke, von dem ich mich nicht trennen kann. Wissen Sie, es gab vielleicht Gründe, Motive ganz anderer Art, ich habe mich lange selbst geprüft und nie eine Antwort gefunden. Mein Glaube wurde stärker, das hat die Frage nach den Gründen zwar zurückgedrängt, aber es waren mit Sicherheit auch weltliche Gründe, durch die ich zum Glauben kam. Wissen Sie, ich denke oft über folgendes nach. Ist es die soziale Stellung, die einen für den Glauben bestimmen kann, ist es soziales Unglück, ist es eine Niederlage, die man verbergen will? Ich rede nicht davon, daß das wirklich ein Glaubensgrund sein kann oder hieraus eine Glaubensgewißheit entstehen könnte. Aber alles das, was ich genannt habe, trifft auf mich zu, oder zumindest kann man es so sehen. Als Rußlanddeutscher war ich für die anderen kein Russe, sondern ein Deutscher, und jetzt denke ich oft: Hast du eine so starke Idee von Rußland und dem russischen Glauben bekommen, weil du ausgeschlossen warst? Das sagen sie hierzulande über Hitler: Er hatte eine so mächtige Idee von Deutschland, weil er aus der Gesellschaft ausgeschlossen war. Die Deutschen reden zwar nicht von einer Idee, aber er hatte eine mächtige Idee, eine falsche, aber doch eine Idee, nur deshalb konnte er so viele Menschen erreichen. Und weiter: Vielleicht war ich nicht einmal ausgeschlossen, und es kam mir nur so vor? Wir sind nach Deutschland gegangen. Hier war ich nun für alle, was ich in Rußland nie gewesen bin: ein Russe. Vor meinem Eintritt ins Kloster dachte ich wochenlang darüber nach, ob ich nicht in Wirklichkeit nur fliehe. Ich tue es nicht. Aber diese Motive sind nicht auszuschließen.
Du begreifst sehr viel, sagte der alte Erzpriester, du siehst es nur noch nicht richtig an. Schau, du hast doch eben selbst die Spur Gottes aufgewiesen. Sie war die richtige Spur in den Motiven, die vielleicht selbst falsch waren oder zumindest auf den ersten und zweiten Blick nichts mit der Wahrheit zu tun haben. Den wirklichen Weg beginnst du erst mit der Zeit zu sehen, aber er war schon immer in deinem vorigen Weg enthalten. Eine Spur, die du noch nicht gesehen hast, die dich aber bereits führte. Deshalb frage nicht in dieser Schärfe nach dir selbst, sondern vertraue auf Gott, und erzähle mir von München, und vor allen Dingen, gehen wir in mein Haus und trinken wir ein Gläschen, sonst werden wir am Ende noch von der Idee des heiligen Rußland ergriffen, wovor uns Gott heute bewahren möge. (Schelmisch:) Denn, Alexej (er nahm ihn am Arm), Rußland ist die Idee, ich stimme darin Dimitrij ganz zu. Aber sie wird durch ein Gläschen noch leuchtender.
Tatsächlich saßen sie fünf Minuten später in der Wohnung des Erzpriesters, hatten Gebäck und ein Schälchen Pilaw vor sich stehen und tranken ein Gläschen … das war an diesem Tag erlaubt. Alexej hörte dem, was Klein sagte, aufmerksam zu und sog es in sich ein. Er fühlte sich wie stets, wenn er bei einem Priester war, wohl wie ein Fisch im Wasser. Auch der Erzpriester war munterer Stimmung.
Weißt du, Alexej, sagte der Erzpriester (das Gespräch ging inzwischen um die Gemeinde in Potsdam), wir werden von der Stadt gepflegt. Schau dich um. Wir sind mitten in der russischen Siedlung, Potsdam ist stolz auf dieseSiedlung, obgleich sie alle, auch der Bürgermeister, das Areal etwas … museal verstehen. Der Kontakt zu den Deutschen ist nicht wirklich lebendig, es sei denn, sie sind selbst orthodox. Sie kennen uns nicht. Wann warst du zuletzt in einem katholischen Gottesdienst? Von den evangelischen möchte ich gar nicht reden. (Er lachte.) Sie haben den Gottesdienst zu einem Kindergartenfest gemacht, aber Gott ist nicht nur für die Kinder da, und man sollte die Erwachsenen nicht zu Kindern machen. Auffällig finde ich auch die
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