Sanssouci
Predigten. Intelligent sind sie nicht. Eigentlich ähneln sie unseren Repetitionen. Aber sie tun so, als redeten sie frei und führten ein wirkliches Gespräch. Das tun sie nicht. Vielmehr lullen sie ihre Gemeinde ein, und zwar gerade durch die Predigt. Ich habe einmal einen weisen Mann kennengelernt, einen katholischen, der sagte, das eigentliche Wesen der westeuropäischen Gemeindeführungen bestehe darin, den Menschen nicht Wahrheit, sondern recht zu geben. Er sagte, in unserem orthodoxen Glauben sei die Wahrheit eine Flaschenpost, die ungeöffnet durch unsere Zeremonie zu jedem hingetragen wird, während im Westen die Flasche immer schon geöffnet und die Postnachricht immer schon ausgelegt, interpretiert, benutzt und instrumentalisiert ist. Ich traf diesen Mann in Sankt Petersburg. Er sagte auch etwas über Gesellschaften, er sagte, Diktaturen verbieten die Wahrheit, Demokratien dagegen vernichten die Wahrheit. Übrig bleibt nur das Volk und was es will. Mit Wahrheit hat das nichts zu tun. In einer Diktatur existiert die Wahrheit, weil sie umstellt wird. Sie ist ein großer Gefangener. In der Demokratie existiert sie nur wie einschlechtes Gewissen, mit dem keiner etwas zu tun haben will und das man einfach abstreitet. Dadurch wird sie völlig aufgelöst. Übrigens, mein Sohn, nimm noch vom Pilaw, und sage mir, wo wohnst du in der Stadt? Und wo ist dein Gepäck? Hast du keines bei dir?
Alexej hörte aufmerksam zu und war ein wenig versunken. Erst nach einigen Augenblicken bemerkte er, daß der Erzpriester das Thema gewechselt hatte.
Gepäck? wiederholte er. Natürlich habe ich Gepäck, ich habe eine … eine Tasche … ich habe sie, wie ich eben erst bemerke, allerdings bei einem Bekannten stehenlassen. Hm, über diesen Bekannten wollte ich ohnehin mit Ihnen sprechen, er kommt aus Sofia. Entschuldigen Sie, ich hätte vielleicht mein Kommen ankündigen müssen, ich hätte es unter normalen Umständen auch getan. Ich bin heute morgen erst angereist. Es war interessant, was Sie eben erzählten … Ich mußte darüber nachdenken. Kennen Sie Grigorij Natchev? Das ist der Bekannte, von dem ich eben gesprochen habe.
Klein: Natchev, Grigorij? Nein. Es gibt, soweit ich weiß, nur drei bulgarische Familien in Potsdam, die in der Gemeinde sind. Aber keine heißt Natchev. Ich müßte meinen Sekretär fragen, jedoch ist der leider schon seit einiger Zeit krank. Wer ist dieser Natchev?
Alexej: Es ist ein früherer Zimmergenosse aus einem Wohnheim in Norddeutschland. Wenn Sie ihn nicht kennen, dann vergessen Sie bitte meine Frage. Vielleicht kennen Sie ihn aber doch, und er war einmal oder mehrfach bei Ihnen, ohne Sie anzusprechen. Wenn ich mehr darüber sagen kann, dann werde ich Ihnen ausführlicherdavon erzählen. Vielleicht werde ich sehr bald noch einmal mit ihm sprechen. Nur eines: Er hat einen roten Bart, das ist auffällig an ihm, und er ist offenbar sehr verzweifelt, vielleicht sucht er Sie bald auf. Ich zumindest möchte ihn gern dazu bewegen … Wir haben früher gemeinsam dem Mönchspriester in unserem Übergangswohnheim assistiert. Reden wir nicht weiter davon. Er wohnt in Babelsberg.
Klein: Nein, ich glaube nicht, daß ich ihn kenne.
Sie kehrten nun zum vorherigen Thema zurück, redeten noch ein halbes Stündchen über die verschiedensten Dinge, und schließlich wollte sich Alexej verabschieden. Er war bester Laune. Klein sagte, er werde seine Frau anweisen, ihm ein Bett zu richten. Natürlich stehe ihm seine Wohnung zur Verfügung, das Zimmer des Sekretärs sei derzeit leer, er, Klein, würde sich über seine Gesellschaft freuen, und seine Frau sicher ebenso.
Alexej dankte dem Erzpriester, beide verabschiedeten sich herzlich voneinander. Dann marschierte Alexej weiter, fast konnte er nicht glauben, daß er sein Gepäck bei Grigorij stehengelassen hatte. Er lief aus der Alexandrowka heraus, gelangte auf die Friedrich-Ebert-Straße, kam am Rathaus vorbei, sah dort eine kleine Wagenkolonne losfahren und bog in die Brandenburger Straße Richtung Potsdam West.
Karstadt
Die Brandenburger Straße war eine Fußgängerzone, links und rechts befanden sich Geschäfte, Restaurants und Dönerläden. Die Häuser sahen nicht anders aus als in Smolensk oder ähnlichen kleinen russischen Städten, es waren alte Häuser mit Giebelfassaden, manche drei-, manche nur zweigeschossig. Nach etwa einhundert Schritten sah Alexej eine große Menschenmenge vor sich, die über die ganze Straßenbreite versammelt war. Er bemerkte auch
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