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Sanssouci

Sanssouci

Titel: Sanssouci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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abzubringen, über diese Bank nachzudenken. Dann gab er sich einen Ruck und fuhr weiter. Er verließ jetzt die Wege von damals, fuhr auf die große Allee, die den Park in Richtung Neues Palais durchschneidet, und kam an einem protestierenden Wächter vorbei (man durfte auf der Allee nicht mit dem Fahrrad fahren). Mai ließ den Wächter unbeachtet. Er war jetzt in den Anblick des Neuen Palais vertieft, das immer riesiger heranwuchs. Dann bog er nach links, fuhr um das rote Gebäude herum, betrachtete die Attikafiguren, wurde absurderweise für einen winzigen Augenblick von der Idee angeweht, vielleicht sei alles normal und er könne mit einem wirklich touristischen Interesse einfach absteigen und sich für mehrere Minuten in den Anblick des vielbesuchten Palais vertiefen … aber dann fuhr er einfach weiter auf einem der Kieswege aus dem Park heraus und bremste abrupt, als er an den beiden Communs vorbeikam. Für eine ganze Weile bewegte er sich nun gar nicht mehr.
    Was in seinem Kopf vorhanden war, hätte man schwerlich als Gedanken bezeichnen können. Es war mehr eineArt dunkler, rudimentärer Wille. Dieser Wille raunte ihm zu, daß er den Weg keinesfalls weiterfahren dürfe. Keinesfalls diesen Weg weiterfahren! Langsam kam Mai wieder zu sich. Du mußt dich disziplinieren, sagte die Stimme in seinem Kopf, hörst du? Du mußt dich disziplinieren! Du hast in der letzten Viertelstunde einen Anfall gehabt. Es war ein Anfall! Genau davor, sagte die Stimme, mußt du dich schützen. Du mußt dich vor diesen Anfällen schützen, unter allen Umständen. Du hast immer noch kein Gleichgewicht gefunden … vielleicht hast du ohnehin nie eines besessen … deshalb bist du ja in all das hineingeraten … fahr also nicht dorthin … nein, fahr nicht hin!
    Christoph Mai wußte nicht einmal, ob Merle Johansson noch in Eiche wohnte. Möglich, daß ihre Eltern (sie hatte damals vom Geld ihrer Eltern gelebt) weiterhin die Wohnung für sie hielten, als Fluchtpunkt und zur ewigen Sicherheit der von den Gefahren des Lebens bedrohten Tochter . Mai stand noch immer da, die Gedanken folgten in seinem Kopf nun in rascher, allzu rascher Folge aufeinander. Stelle sie dir nur nicht vor! Keinesfalls bildlich vorstellen! Ich will dieses Gesicht und diese Gestalt nicht vor mir haben, nicht in Wirklichkeit und nicht vor meinem inneren Auge. Ich habe davor eine bis zum Ekel gesteigerte … nein, nicht zu Ende denken! Dauernd denkst du zwanghaft diese widerlich langweiligen Gedanken, du ekelst dich schon dabei, es ist wie den Finger in eine Wunde hineinzustecken, tief hinein, grauenhaft … oder es ist vielmehr etwas, auf das dein Leben zielstrebig zugelaufen ist, und in dem Augenblick, als du den ersehnten Kelch angesetzt hast, wurde dir klar, daß du einenGiftkelch an den Lippen hast. Und du hast sogar noch eine Weile weitergetrunken, mit voller Absicht. Er wiegte seinen Kopf hin und her und zog eine Fratze, bis er auch das wieder sein ließ, vor Wut auf den Boden stampfte, das Fahrrad herumriß und in den Park zurückfuhr. Dabei sagte er sich: Es ist natürlich völlig absurd, daß du nach Eiche fahren wolltest, aber schon daß du noch einmal durch Sanssouci fährst, obgleich du dir doch geschworen hattest, niemals mehr nach Potsdam, geschweige denn in diesen Unglückspark, zurückzukehren, zeigt, was für ein absoluter Armleuchter du bist. Du hast das Unglück immer gesucht, mit ausgebreiteten Armen hast du danach gesucht, damit es dir nur nicht entwischt, du wolltest immer ein möglichst großes Glück und ein möglichst großes Unglück, und am Ende hast du dem Teufel doch in eine ganz andere Fratze geschaut als erwartet …
    Er fuhr nicht zu Hornungs Haus zurück, sondern nahm beliebige Querwege, kam am Schloß Charlottenhof vorbei, das wie immer fast keine Besucher hatte, fuhr über das Hippodrom zum Ökonomieweg, umfuhr den Freundschaftstempel, der geradezu lächerlich einsam herumstand, obgleich er nur wenige Meter vom Hauptweg entfernt war (er war noch verrotteter als vor drei Jahren), dann fuhr er zurück zum Chinesischen Teehaus, das wie üblich massenhaft fotografiert wurde. Heute waren sehr viele Russen da. So, sagte er sich, jetzt will ich doch einmal genau auf die Schönheiten dieses Parks achten, dieses vielbesuchten und vielgerühmten Parks, in dem ich damals jeden Tag war, obgleich ich von diesem Park fast nichts mitbekam, da wir ja immerfort anderesin ihm taten, und das natürlich nachts und auch im Winter bei Schnee, wo es

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