Sanssouci
den Stadtrand bildete und nicht nur an den Wald, sondern auch an ein neu gebautes Frei- und Hallenbad grenzte. Das machte die Siedlung besonders für Familien attraktiv. Mai lehnte das Fahrrad gegen den Schwimmbadzaun. Man konnte durch die noch nicht ganz zugewachsene Hecke die Badegäste aufHandtüchern lagern sehen. Direkt hinter dem Zaun saß eine Gruppe blonder Mädchen in schwarzen Bikinis, gepierct und Zigaretten rauchend. Auf dem Gehweg kamen zwei alte Potsdamer an Mai vorbei, blieben stehen und schauten durch die Hecke. Na, Erwin, gehst du heute mal zum Karstadt? fragte der eine den anderen, während sie die Mädchen betrachteten. Er sprach starken Brandenburger Dialekt. Auf jeden Fall gehe er nachher mal zum Karstadt, sagte der andere im selben Dialekt. So was habe man noch nicht gesehen, sagte der erste. Es war nicht klar, ob er damit die Gruppe der Bikinimädchen oder den Karstadt meinte. Eines der Bikinimädchen saß im Schneidersitz und leckte sich gerade die Unterlippe. Als sie Mai sah, zog sie an ihrer Zigarette, lächelte herausfordernd und leckte sich erneut die Unterlippe.
Mai ging weiter. Er lief hinter die Fabrik. Merle hatte im ersten Stock gewohnt, in einer Dreizimmerwohnung mit hinterem Balkon. Es war nicht zu sehen, ob sie noch in der Wohnung lebte. Vielleicht hast du, sagte er sich, eben sogar damit gerechnet, daß sie auf dem Balkon liegt. Sie war immer recht blaß. Übrigens trug sie auch einen schwarzen Bikini. Sie hatte eine gepiercte Stelle an der unteren Lippe, etwas seitlich versetzt. Aber sie hatte sich dieses Piercing bereits vor mir entfernt, oder vielleicht auch wegen mir, keine Ahnung, weiß der Teufel … Christoph, hör auf zu denken! Hör auf! Nein, ich bin hierhergefahren, obwohl ich es niemals hätte tun dürfen, und jetzt werde ich natürlich nicht aufhören zu denken, sondern ich werde all das weiterdenken und mich damit fürchterlich quälen, mit voller Absicht!
Auf dem Balkon regte sich nichts. Mai lief vor das Haus, blickte nach links und rechts und besah dann die Klingelschilder. Dort stand: Johansson.
Er zog einen Kümmerling aus seiner Hosentasche und trank ihn. In diesem Moment regte sich etwas hinter der Tür. Mai mußte unwillkürlich lächeln. Etwas in ihm wurde eiskalt. Für eine winzige Sekunde war er sicher, nun würde die Tür aufgehen und Merle Johansson herauskommen. Dann dachte er nach und sagte sich, wahrscheinlich werde irgendein beliebiger Hausbewohner herauskommen. Dann wiederum sagte er sich, es könne natürlich durchaus auch Merle Johansson sein. Er hatte keine Ahnung, was geschehen würde, wenn er ihr Angesicht zu Angesicht gegenüberstünde. Zwar hatte er sich in den letzten drei Jahren immer wieder zwanghaft vorgestellt, dieser Person zu begegnen, aber jedesmal, wenn er sich die Begegnung auszumalen versuchte, wurde es dunkel, die Vorstellung endete in diesem Augenblick.
Er zog sich hinter die Trennwand zurück, die die Hauseingangstür von der danebenliegenden Eingangstür trennte. Aus dem Haus kam eine Frau. Sie hatte schwarzes Haar, er sah sie von hinten.
Die Frau schob einen Kinderwagen und hatte ein Kind an der Hand. Das Kind löste sich und lief ein Stück vorneweg, es war etwa drei Jahre alt. Die Frau wartete, bis das Kind wieder herangekommen war, dann setzte sie das Kind in den Wagen, auf eine, wie Mai schien, sehr umständliche Weise. Das verstärkte seinen Eindruck, die Frau könnte Merle Johansson sein. Merle Johansson hatte immer alles mit großer Umständlichkeit getan.Nachdem das Kind im Wagen verstaut war, lief die Frau los. Mai war sich nun sicher, Merle Johansson mitsamt Sohn vor sich zu haben. Sie bewegte sich ohne Eile. Mai vergrub die Fingernägel in den Handballen. Merle schob den Kinderwagen zum Schwimmbadzaun und unterhielt sich dort mit einem der Bikinimädchen. Das Bikinimädchen stemmte seine Arme in die Seiten, während es mit der Kindsmutter sprach. Die Kindsmutter bewegte sich wie Merle Johansson. Dennoch zweifelte Mai nun wieder, ob sie wirklich Merle Johansson sei. Eben war er sich noch vollkommen sicher gewesen. Aber vielleicht sah sie ihr nur ähnlich. Immerhin hatte er Merle seit Jahren nicht gesehen, wahrscheinlich sah sie inzwischen vollkommen anders aus. Jetzt dachte er sogar, daß diese Frau nicht einmal Ähnlichkeiten mit Merle hatte. Sie war nur etwa gleich alt wie sie und hatte ein gleichaltriges Kind. Mein Gott, sagte sich Mai, bin ich grenzenlos blöde.
Später fuhr Mai in die Stadt zurück. Die
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