Sanssouci
Geschehen, das sich jetzt ankündigte, unbedingt filmen wollten. Zwei Ordnungshüter kamen von hinten an Nils heran und packten ihn an den Schultern. Da aber Gedränge herrschte, konnten sie Nils nicht sogleich aus dem Umkreis der Kameras herauszerren. Während dieser, so an den Schultern gepackt, dastand, rief er in Richtung des Oberbürgermeisters, der keine zwei Meter von ihm entfernt verharrte: Es ist Ihre Stadt, es ist Ihr Staat, denn Sie sind hier Politiker … (die Ordnungshüter zerrten kräftiger an ihm, Nils verzog das Gesicht unter Schmerzen) … und Sie tun das alles aus bloßer Laune heraus . Dann wurde er weggeschleppt, aber nur bis an den Rand der Straße, wo man ihn gegen eine Wand stieß und sich von ihm abkehrte. Was bedeutet denn das, fragte Alexej. Heike gab keine Antwort, sondern lief zu Nils, der unterdessen in die Menge zurückstrebte. Hier und da wurde er mit ausgestreckten Händen geschubst, es entstand immer mehr Gedränge um ihn. MalkowskisKamera filmte alles. Alexej wandte sich um und sah, daß eine zweite Kamera bei Arnold war und ein Journalist mit dem Jungen zu reden versuchte. Arnold achtete allerdings nicht auf die Fragen des Mannes, sondern suchte Nils mit dem Blick, lächelte zufrieden und hob seine rechte Hand zu einem V-Zeichen. Auch diese Geste wurde gefilmt. Immer mehr Leute umringten Arnold und begannen eine erregte Diskussion mit ihm. Die Biertrinker befanden sich nach wie vor bei ihrem Würstchenstand und hatten von dem Trubel, der zwanzig Meter von ihnen entfernt stattfand, nichts mitbekommen.
Nils und Arnold standen allein gegen die Menge, die sich zusehends erhitzte und deren Gesichter maßlose Empörung zeigten. Der Oberbürgermeister war inzwischen um die Ecke zu den Wagen gegangen, die dort auf ihn und seine Magistratsmitglieder gewartet hatten, und war davongefahren. Aus der Menge wurden Rufe gegen die Jugendlichen laut. Man hielt sie für Randalierer. Man rief unter anderem: Geht doch woandershin, wenn ihr Radau machen wollt! Man werde sich hier nicht die Eröffnung des Kaufhauses kaputtmachen lassen von solchen Brüdern. Arnold hörte sich das begeistert an und lachte allen ins Gesicht, was die Menge endgültig aggressiv machte. Nils bekam von einem älteren, erregten Mann eine Ohrfeige ins Gesicht (besser gesagt, einen Klaps) und wehrte sich mit einem Fußtritt. Alexej schaute sich hilfesuchend um. Die Lage wurde immer bedrohlicher, es begann eine Schubserei, die Masse schob sich immer mehr zusammen. Nils, Heike und Arnold standen mittendrin …
III
Wieder in Sanssouci
Christoph Mai verbrachte die Nacht in Hornungs Haus. Es war unaufgeräumt, im oberen Stock lagen Kissen, Decken, Gläser, Teller und Wäschestücke durcheinander auf dem Boden herum. Mai achtete kaum darauf, so benommen war er von der Tatsache, wieder in Potsdam zu sein. Schon seitdem er am Bahnhof angekommen war, schwankte ihm der Boden unter den Füßen. Er erlebte alles wie in einem Rausch.
Auch am folgenden Morgen konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Seiner ihm vom Notar übertragenen Aufgabe, dem Sichten und Ordnen der Hinterlassenschaft, konnte er in diesem Zustand nicht nachkommen. Er saß den ganzen Vormittag am Fenster und starrte hinaus, ging dann in den Garten, fand im Schuppen ein Fahrrad und fuhr los. Es geschah wie automatisch: Kaum hatte er das Fahrrad im Schuppen entdeckt (war er tatsächlich zum Schuppen gelaufen, um dort ein Fahrrad zu suchen?), fuhr er los, in eine ganz bestimmte Richtung, als hätte er sich das schon lange vorgenommen. Er nahm kaum etwas wahr und beachtete die Potsdamer nicht, die wie eh und je auf den Trottoirs herumliefen und herumstanden … genau wie vor drei Jahren. Er beachtete auch weder die Läden (einige kannte er noch von damals) noch die Häuser. Als er aber durch den Park von Sanssouci fuhr, merkte er auf … Ah, Sanssouci! sagte er sich. Jetzt bist du also wieder in Sanssouci, schau an! Er fuhr dieWege im Park wie von selbst, ohne nachzudenken, als sei er sie sein ganzes Leben lang gefahren und habe sie erst gestern zum letzten Mal benutzt. Als er an einer Bank vorbeikam, einer ganz bestimmten Parkbank, hielt er an, denn es fiel ihm etwas ein, das mit dieser Parkbank zu tun hatte. Aber er sagte sich: Nein, Christoph, keinesfalls, unter keinen Umständen wirst du jetzt an das denken, was mit dieser Bank zu tun hat. Eine halbe Minute betrachtete er angestrengt eine Blaumeise und summte irgendeine Melodie vor sich hin, nur um sich unbedingt davon
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