Sanssouci
im Kloster jeden Tag ähnliches, aber doch nicht gleiches Essen, er sang jeden Tag andere Gesänge, hörte jeden Tag eine andere Lesung, aber dennoch war es für ihn in gewisser Weise immer derselbe Tag. Und Alexej hätte sofort zugestimmt, daß Glück (er meinte damit eine Art tiefer Dankbarkeit) wohl kaum auf eine andere Weise zu erreichen wäre. Es war immer der eine Tag vor Gott. Raum und Zeit waren weitgehend aufgehoben.
Merle Johansson gehörte ebenfalls zu den Menschen, deren Tag man idealtypisch schildern kann. Auch ihre Tage verliefen in großer Gleichförmigkeit. Sie spürte Glück und Zufriedenheit, aber Dankbarkeit verspürte Merle Johansson nicht. Dieses Gefühl war ihr fremd, überdies hätte sie auch gar nicht gewußt, für was und vor allem wem sie dankbar sein sollte.
Merle Johansson war wie immer im vorderen Zimmerihrer Wohnung erwacht. Heute hatte sie allein geschlafen. Außer ihrem Sohn, dessen Bettchen zwei Zimmer weiter stand, befand sich niemand in der Wohnung. Sie war sehr schnell wach (Merle Johansson trank keinen Alkohol und war am Morgen stets frisch), richtete sich auf und verharrte einige Minuten in dieser Haltung, an dies und das denkend. Dann erhob sie sich und blieb eine Weile vor ihrer Matratze stehen. Sie mochte es, wenn sie möglichst langsam über Dinge nachdachte oder ihnen nachsann, schon morgens unmittelbar nach dem Aufwachen bereitete es ihr Genuß.
Merle trug als einziges Kleidungsstück ein schwarzes Oberteil, das sie am Vorabend aus dem Wäscheberg neben den Matratzen gezogen hatte. Sie hatte sich schon vor Jahren angewöhnt, beim Schlafen dieses Kleidungsstück zu tragen, es wirkte auf Männer und gefiel ihr auch selbst. Übrigens trug sie aus Bequemlichkeit nur ein Oberteil; so konnte man einfach ins Bad gehen, und auch anderes war einfacher.
Merle Johansson stand eine Weile da, spürte ihr Dastehen, spürte das Zimmer um sie herum, den Morgen und das angenehme Gefühl, dazusein, betrachtete ihre Schenkel, ihre Füße, spreizte ihre Zehen ein wenig, wurde kurz mißmutig, weil sie so große Füße hatte, gewann aber sofort eine tiefgehende Befriedigung aus dem Gedanken, daß diese Füße ihr noch nie im Weg gestanden hatten. Im Gegenteil, einige waren versessen auf diese Füße. Für manches eigneten sie sich sehr.
Eigentlich wollte Merle zu ihrem Sohn hinübergehen, der bis zehn Uhr im Kindergarten sein mußte. Sie bliebaber zunächst eine Weile vor dem großen Spiegel neben den Matratzen stehen und betrachtete ihr Gesicht, wobei sie ihre Miene nicht verzog, sondern sich einige Minuten ruhig und sachlich musterte, bis ihr Blick auf das Kinderholzpuzzle fiel, an dem sich Jesus am Vorabend versucht hatte. Neben den Puzzleteilen lagen einige Ritterfiguren aus Holz und ein Burgmauerfragment mit Zinnen auf dem Boden. Ihr Sohn hatte sehr schön mit all diesen Sachen gespielt, wobei sie ihm lang zugesehen hatte. Sie sah ihm immer gern lange Zeit zu.
Merle Johansson schaute ihrem Sohn beim Spielen zu, wie andere Menschen auf das Meer blicken. Sie verlor das Gefühl für Zeit dabei. Übrigens unterbrach sie ihren Sohn beim Spielen oft und ließ ihn kaum je fünf Minuten seine eigenen Dinge tun, aber das störte sie gar nicht, es gehörte vielmehr zu ihrer Technik des Hinauszögerns von Dingen zwecks längerem Genuß. Und ihr Sohn gehörte ja ihr beziehungsweise war sie (sie trennte das nicht so). Sie hielt ihn bei allen Dingen auf, so wie sie sich selbst gern bei allen Dingen aufhielt, und so verging die Zeit …
Nachdem Merle Johansson eine Weile damit verbracht hatte, zwei, drei Teile des aus fünf Teilen bestehenden Kinderholzpuzzles an den richtigen Ort zu legen (mal sehen, ob es Jesus bemerken würde!), und nachdem sie einige der Ritterfiguren dekorativ vor die Zinnen gestellt hatte (obgleich sie Ritterspielen nicht mochte – Jesus drosch meist aggressiv auf die Figuren ein), ging sie hinüber zu ihrem Sohn. Bevor sie aber sein Zimmer erreichte, machte sie Station im Badezimmer, das auf dem Weg zum Kinderzimmer lag. Es waren nun schon zwanzigMinuten vergangen, seitdem sie aufgestanden war, aber sie dachte nicht in Zeiteinheiten, sie war ja früh genug aufgestanden, um lange Zeit zu haben für alles, was zu tun war. Auch im Badezimmer betrachtete sie sich eine Weile im Spiegel, ihre Schultern, ihren am Vorabend mit Olivenöl eingeschmierten Bauch, ihre allgemein gelobten Beine und alles Weitere an ihr, in das sie nicht direkt verliebt war, aber fast, und zwar, insofern
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